Mehr als 350 Trauergäste kamen zur Beerdigung von Walter Josef Fischer, dem wohl berühmtesten und umstrittensten Sprayer Deutschlands

Ohlsdorf. Wäre er noch am Leben, würde Walter Josef Fischer sich an diesem Oktobertag vermutlich so fühlen, wie er sich immer gefühlt hat: verfolgt und umzingelt, denn es sind rund 350 Trauergäste zu seiner Beerdigung auf dem Ohlsdorfer Friedhof erschienen: Stadtteilaktivisten, Sympathisanten aus der linken Szene, Fans des FC St. Pauli und Sprayer. Viele haben Bier dabei. Vor dem Eingang zum Fritz-Schumacher-Trauerzentrum, am Stehpult mit dem Kondolenzbuch und in der Trauerhalle herrscht Fotografierverbot, aus „Gründen der Pietät“. Die Fotografen und Kameraleute halten den geforderten Abstand, aber sie werden dennoch quer über die Straße angepöbelt.

Auch Walter Josef Fischers Rechtsanwalt Andreas Beuth ist gekommen. Er verwaltet die Spendengelder, die auf eine Initiative der „Kiezhelden“ des FC St. Pauli hin gesammelt wurden, der sozialen Plattform des Fußballklubs, damit sein Mandant heute anständig beerdigt werden kann. Mehr als 9000 Euro waren binnen 28 Stunden zusammengekommen, mit dem Überschuss will man voraussichtlich inhaftierte Mitglieder der Graffiti-Szene unterstützen.

Die Akte „OZ“ hat die Justiz nun endgültig geschlossen. Für die Ermittlungsbehörden war Walter Josef Fischer stets ein renitenter Sachbeschädiger, wahrscheinlich psychisch krank, aber es fanden sich keine Gutachter, die das auch so bescheinigten. Die Deutsche Bahn, die Hamburger Hochbahn und so mancher Hausbesitzer dürften jetzt jedoch in aller Stille aufatmen, dass sie nicht mehr Opfer von unerwünschten Sprühereien werden.

Fischer wurde in der Nacht vom 25. auf den 26. September auf den Gleisen zwischen dem Hauptbahnhof und Berliner Tor von einer S-Bahn erfasst. Sein Leben lang schon hatte man ihn übersehen, diesen Walter Josef Fischer, der nur 58 Jahre alt wurde. Ein schmächtiger Mann mit einem auffällig länglichen Gesicht, die Oberlippe wegen einer operierten Gaumenspalte entstellt, seine Sprache vernuschelt. Man musste schon ganz genau zuhören, wenn man ihn verstehen wollte, der sich stets verfolgt sah und gedemütigt von seinen Mitmenschen. So einer zieht sich dann häufig noch mehr zurück, entwickelt Misstrauen gegen alles und jeden, fängt selbst an zu beißen, zu provozieren – und wird dafür mit noch mehr Ablehnung bestraft.

Walter Josef Fischer war das geborene Opfer. Ein nicht eheliches Kind, von der Mutter in ein katholisches Kinderheim abgeschoben, in der Schule von allen Kindern gepiesackt. Einer, der nicht mal den Hauptschulabschluss schaffte, der eine Gärtnerlehre abbrach und der schließlich nach einer Odyssee, die ihn bis nach Asien geführt hatte, im Jahre 1992 in Hamburg strandete. Hier entdeckte er endlich die Möglichkeit, seiner Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung Ausdruck zu verleihen. Und seine angestaute Wut – auf was auch immer – rauszulassen.

Fortan verwandelte sich Walter Josef Fischer zumeist in der Nacht in den geheimnisvollen Sprayer „OZ“, der die vermeintlich graue Stadt mit eigenwilligen Graffiti bunter gestalten wollte. Darüber hinaus sprühte er aber auch seine Tags (die Signaturen eines Sprayers) auf Fassaden und Verkehrsschilder sowie auf Schalt- und Stromkästen der U- und S-Bahn: eben das bekannte „OZ“ oder eine gekrakelte Spirale (jeder Kringel sollte ein Opfer des Faschismus symbolisieren) oder auch nur einen abgespeckten Smiley.

Häufig benutzte er auch dicke Filzstifte. Mindestens 120.000 solcher Tags hat die Polizei bisher gezählt; wahrscheinlich sind es jedoch viel mehr, denn „OZ“ hatte nachweislich Nachahmer. Seine Leidenschaft brachte ihm rund 100 Ermittlungsverfahren und mehrere Verurteilungen wegen Sachbeschädigung ein. Und im Jahre 1999 entsetzliche Prügel, als ihn zwei Sicherheitskräfte der S-Bahn-Wache so übel zurichteten, dass sie später zu 14 und 18 Monaten Haft verurteilt wurden.

„Er hat niemals substanzielle Sachbeschädigungen verursacht“, sagt sein Anwalt Andreas Beuth, „die Urteile waren generell zu hart.“ Aber Walter Josef Fischer machte unverdrossen weiter, immer weiter. Er galt als unbelehrbar und unbeugsam und wurde gerade wegen seines konsequenten Tuns von der Sprayerzunft in zunehmendem Maße verehrt. „Better tot als den Schwanz einziehen“, sagte „OZ“ in seinem letzten Interview, das er einem englischen Videoteam gab, „man muss kontern!“ Und wie er konterte: Zwar boten ihm Galeristen oder der FC St. Pauli Flächen zum Sprühen an, aber er lehnte Papier und Leinwände ab, zog die Illegalität vor. „Meine Galerie ist die Straße“, sagte er trotzig, obwohl er von Ordnungskräften längst gezielt verfolgt und auch häufig auf frischer Tat geschnappt wurde.

Dass Walter Josef Fischer weder zeichnen noch malen konnte, ist inzwischen bewiesen. Doch nun liegen bereits mehrere Anträge vor, einige seiner Werke unter Denkmalschutz zu stellen. Die Kulturbehörde will dieses Ansinnen angeblich „wohlwollend prüfen“. Die Diskussion, wie viel „Kunst eine Stadt verträgt“ und ob es sich bei dieser Form von „maßloser Selbstverwirklichung“, wie seine Kritiker sagen, überhaupt um Kunst handeln könnte, hat wahrscheinlich gerade erst begonnen.

Für seinen farbenfrohen Kreuzzug bezahlte Walter Josef Fischer also einige Geldstrafen, aber büßte auch mit insgesamt acht Jahren Gefängnis, die er im Haus 4 der JVA Fuhlsbüttel absaß. „Dort hielten ihn alle für verrückt“, erinnert sich die Kunsterzieherin Eva-Maria Guzinski, die einmal pro Woche ehrenamtlich einen zweistündigen Malkursus für Strafgefangene anbot. „‚Zu dem brauchst du gar nicht erst hingehen‘, haben seine Mitgefangenen gesagt. Ich glaube auch, dass er nur kam, um sich abzulenken, denn er saß immer allein an einem Tisch und kritzelte lustlos auf dem Papier herum.“ Aber einmal habe er ihr verraten, was „OZ“ in Wahrheit bedeuten würde: „‚Ohne Liebe, ich ziehe bloß den Farbstrahl vom O zum L rüber‘ – so hat er es mir jedenfalls erklärt“, sagt Eva-Maria Guzinski.

Sein Anwalt schmunzelt, als er das hört. Das sei schon die dritte Version einer Deutung, sagt Andreas Beuth. „Das ‚OZ‘ könnte nämlich auch für seine Begeisterung für den Ozean stehen, den er in Asien hautnah erlebte, aber ich halte eine andere Erklärung für plausibler: Er soll ja bulgarische Vorfahren haben, und die würden seinen zweiten Vornamen – ‚Jozef‘ – mit ‚z‘ schreiben.“

Nach gut 90 Minuten öffnen sich die Türen der Trauerhalle. Der Sarg ist bunt besprüht, ein fröhliches, rechteckiges Graffito. Trauergäste versuchen, mit ausgebreiteten schwarzen Jacken den Sarg abzuschirmen. Als sich der Trauerzug auf den rund zwei Kilometer langen Weg zur Grabstelle in der Nähe der Kapelle 10 macht, wird ein Transparent entrollt: „OZ hat uns die Stadt vererbt“, gefolgt von einer kleineren Papptafel: „Walter, der Kampf geht weiter“. Denn so einer wie Walter Josef Fischer eignet sich auch vorzüglich zum Märtyrer.

Schon macht das Gerücht die Runde, „OZ“ habe sich das Leben genommen, „weil er einfach keinen Bock mehr hatte“. Auch die Grabstelle wird von seinen Sympathisanten dann hermetisch abgeschirmt. Ja, würde er noch leben, würde sich Walter Josef Fischer in diesem Augenblick mit Sicherheit umzingelt fühlen. Vielleicht aber auch erstmals getragen. Von Liebe.