In Hamburg läuft ein bundesweit einmaliges Projekt: die Hundebande. Ehemalige Häftlinge helfen dabei, junge Welpen zu Blindenführhunden auszubilden. Die Tiere unterstützen die Männer bei der schwierigen Rückkehr in den Alltag außerhalb der Gefängnismauern

Manchmal geht Uwe mit Molly zum Hafen runter. Dann stehen sie zusammen am Fischmarkt und schauen auf den Strom. Der schwarze Labrador-Mischling war 13 Wochen alt, als Uwe im Februar mit zwei anderen Bewohnern des Männerwohnheims an der Max-Brauer-Allee die Patenschaft für den Welpen übernommen hat. Jetzt sind die beiden unzertrennlich. „Wenn du mit einem Hund in der Stadt unterwegs bist, ist das ganz was anderes, als wenn du alleine spazieren gehst“, sagt Uwe. Ständig trifft er nun auf der Straße Hundebesitzer und kommt auf einmal mit anderen Menschen viel schneller ins Gespräch als zuvor. „Und wenn es mir mal schlecht geht“, sagt Uwe, „ist ja jetzt Molly da. Dann geht es mir wieder besser. Das ist so.“

Molly verlangt Uwe eine ganze Menge ab. Morgens um sechs drehen sie eine erste kleine Runde um den Häuserblock in Altona. Nach dem Frühstück geht es um neun Uhr zum Austoben in den Wohlers Park. Zweimal in der Woche, montags und donnerstags, steht ein zweistündiges Training mit Nadja oder Melanie, den Hundetrainerinnen, auf dem Programm. Sie fahren mit den Hunden Bus und Bahn, üben Sitz und Platz, das Verhalten an der Ampel und die richtige Reaktion auf tobende kleine Kinder. Molly soll später einmal ein Blindenführhund werden. Dafür braucht sie Uwe. Jahrelang hat niemand auf Uwe gewartet.

Uwe Luttkus ist 46 Jahre alt. Er hat kurze Haare, ist schlank, hat viele Tätowierungen auf den kräftigen Armen und einen freundlichen Blick. Wenn er über die Vergangenheit spricht, lässt er keine Frage unbeantwortet. „Ich stehe dazu.“ Uwe war 14 Jahre im Gefängnis. „Aber ich habe meine Strafe auch verbüßt, und jetzt mache ich nichts Kriminelles mehr.“ Seit dreieinhalb Jahren, sagt er, sei er jetzt ohne Straftat. Vor zwei Wochen ist seine letzte Bewährung abgelaufen. „Das ist mal einen Applaus wert“, sagt Uwe.

Mit 20 Jahren wurde Uwe das erste Mal wegen Drogenhandels verurteilt und saß sechs Jahre und neun Monate im Gefängnis. 58 Kurierfahrten und der Handel mit 30 Kilo Heroin konnten ihm nachgewiesen werden. „Über die Konsequenzen meines Handelns habe ich früher nie nachgedacht“, sagt er. Als sein bester Freund an einer Überdosis Heroin gestorben ist, hat er sich erschrocken, wie kalt ihn das gelassen hat. Nach der Entlassung war Uwe fünf Jahre lang auf freiem Fuß. Dann bekam er wegen Drogenhandels im großen Stil eine siebenjährige Haftstrafe. Man kann sagen, dass er fast ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbracht hat.

Uwe ist in Münster aufgewachsen. Mit 14 Jahren hat er die Schule abgebrochen. Sein Vater ist mit 38 Jahren an Leberzirrhose gestorben. Seine Mutter hatte einen britischen Soldaten kennengelernt, sie sind zu dritt nach England gegangen. Vier Jahre später ist Uwe alleine nach Deutschland zurückgekehrt. Wieder zurück nach Münster, zu den alten Kumpels. Er sagt, er sei schon mit 15 Jahren heroinabhängig gewesen. „Ich habe erst gekifft und dann alle Drogen ausprobiert, die es gibt.“ Eigentlich, sagt er, war er drei Jahre lang „immer im Rausch“. Ein teures Leben war das. Er fing an zu dealen. Hatte plötzlich viel Geld und wurde 1989 das erste Mal verhaftet.

Nach längerer U-Haft kam Uwe direkt in den Maßregelvollzug in Osnabrück, um dort als suchtkranker Täter therapiert zu werden. Er begann eine Ausbildung zum Zweiradmechaniker, machte seinen Realschulabschluss und hielt bei seiner Entlassung 1995 den Gesellenbrief in der Hand. „Ich hätte damals aus Münster wegziehen müssen“, sagt er. „Aber ich dachte, ich hätte noch was verpasst und müsste einiges nachholen.“ Er wurde rückfällig.

Ein Gramm Heroin kostete vor 20 Jahren knapp 200 Mark und reichte für zwei Tage. Uwe fing wieder an zu dealen. Im Jahr 2000 die nächste Verhaftung in Münster wegen der Einfuhr von Drogen. 2006 wurde er entlassen, das letzte Jahr wurde zur Bewährung ausgesetzt. Uwe sagt: „Erst da habe ich kapiert, dass ich aus Münster weg musste.“ Er zog zu einer Freundin nach Hamburg.

Bei seinem zweiten Gefängnisaufenthalt in der Justizvollzugsanstalt Werl, sagt er, habe er keine Drogen mehr konsumiert. Unter den Schwerkriminellen, den Lebenslänglichen, die über seine siebenjährige Haftstrafe nur gelächelt haben, sei Heroin verpönt gewesen. Und er wollte nicht zu den Gürteltieren gehören, sagt Uwe. So nennt man die Junkies im Knast, die unterste Kaste.

Seine Drogensucht bekämpfte er mit Subutex. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist das Mittel in Deutschland zur Drogensubstitution zugelassen. Die Tablette wird unter Aufsicht eines Arztes unter die Zunge gelegt, wo sie sich langsam auflöst.

Als Uwe es versäumte, sich bei seinem Bewährungshelfer zu melden, wurde er das dritte Mal verurteilt. Anfang 2011 wurde er aus der Justizvollzugsanstalt Billwerder entlassen – und hat sich über den erneuten Schritt in die Freiheit nicht einmal mehr gefreut. „Da kam kein Lächeln über meine Lippen, das war irgendwie traurig. Ich war einfach nur von mir selbst enttäuscht, dass ich da noch einmal reingegangen bin.“

Im Jahr 2012 wurden in Hamburg rund 1900 Strafgefangene aus der Haft entlassen. Wenige von ihnen dürften in ein intaktes Umfeld zurückgekehrt sein. Im Grunde wartet keiner auf die, die aus der Bahn geworfen wurden. Göttinger Kriminologen haben herausgefunden, dass jeder dritte Straftäter in Deutschland innerhalb von drei Jahren rückfällig wird.

Das Projekt Hundebande, das derzeit in Hamburg läuft, ist bundesweit einmalig. Initiiert hat es Manuela Maurer. „Menschen, die aus dem Gefängnis kommen, werden auf eine harte Probe gestellt“, sagt die Sozialpädagogin. Ihnen fehlten vor allem soziale Kontakte. „Die Hunde unterstützen die Eingliederung.“ Außerdem lernen die Männer nicht nur sehr viel über die Tiere, sondern auch über sich selbst. Sie müssen plötzlich wieder verlässlich sein, den Tag strukturieren, eine Bindung eingehen, eine Beziehung aufbauen und durchhalten. „Molly hilft mir aus der Isolation“, sagt Uwe. Und dass es lange her sei, dass er von jemandem solch ein Vertrauen zurückbekommen habe.

„Die Männer, die aus der Haft zu uns kommen, sind meist weitgehend demoralisiert und sozial wie familiär in der Regel völlig isoliert. Viele leiden unter einer Suchtkrankheit oder einer chronischen Infektionskrankheit, sind oft überschuldet, seit längerer Zeit ohne Job und haben in der Schule oder in der Ausbildung viele Misserfolge hinter sich“, sagt Andreas Mengler, 57, Geschäftsführer des Männerwohnheims des Hamburger Fürsorgevereins an der Max-Brauer-Allee.

Uwe will jetzt das dunkle Kapitel abschließen. Und das zweite Kapitel seines Lebens aufschlagen. „Ich bin noch nicht zu alt für gewisse Sachen, ich möchte mich vor allem endlich wieder selbst versorgen.“ Zurzeit jobbt er in einem Fahrradladen, er hat Aussicht auf einen Arbeitsplatz als Zweiradmechaniker. Früher, sagt er, habe er mit dem sozialen Kram nichts zu tun gehabt. Jetzt lebt er von staatlicher Unterstützung. Das fühlt sich für ihn an „wie Betteln“. Er freut sich über die Hilfe. Aber ihm missfällt die ständige Kontrolle.

Nachdem er bei seiner Freundin ausgezogen ist, wohnte Uwe für einige Monate bei den Maltesern in einem Containerdorf, einer Übergangseinrichtung für drogenabhängige wohnungslose Männer in Bahrenfeld. Dann bewarb er sich im Wohnheim des Hamburger Fürsorgevereins. In dem Haus in der Max-Brauer-Allee leben 21 ehemalige Strafgefangene. Nach einem halben Jahr bekam Uwe ein Zimmer. 25 Quadratmeter, Fenster zur Straße, Schrank, Bett, Tisch und Stuhl. Ein Laptop im Regal, ein paar Pflanzen auf der Fensterbank. In seiner Wohnung lebt er mit zwei anderen Männern zusammen. Jeder hat sein eigenes Zimmer, sie teilen sich Küche und Bad.

Doch langsam wächst der Druck auf Uwe. Bis zum Ende des Jahres muss er eine Wohnung gefunden haben. Dann sind die 18 Monate in der Max-Brauer-Allee zu Ende. Er hat einen Dringlichkeitsschein, aber nach zahlreichen Ortsterminen mit 30 oder 40 Bewerbern glaubt Uwe nicht mehr recht an seine Chance auf die eigenen vier Wände. „Was nützt die beste Resozialisierung“, sagt er, „wenn es in Hamburg keine Wohnungen für uns gibt.“ Er sagt, die meisten Bewohner würden das Männerwohnheim verlassen, ohne dass sie eine Aussicht auf eine Wohnung hätten.

Andreas Mengler sagt, dass im vergangenen Jahr immerhin noch acht Männer aus dem Heim in eine eigene Wohnung gezogen wären. „Es ist für diesen Personenkreis nie leicht gewesen, eine Wohnung zu bekommen.“ Aber nun sinke in Hamburg seit Jahren der Anteil an geförderten Wohnungen. „Er ist aktuell auf dem Tiefstand – und ein weiteres Absinken ist zu erwarten“, sagt Mengler. „Das bekommen wir hier hautnah zu spüren.“ Die durchschnittliche Belegungszeit der Bewohner sei mittlerweile von 6,5 auf zehn Monate angestiegen.

Der Hamburger Fürsorgeverein, der sich seit 65 Jahren maßgeblich aus Spenden und Vereinsbeiträgen finanziert, hat auch ein Dutzend eigene Wohnungen bei Baugenossenschaften angemietet, die dann nach einer erfolgreichen Übergangszeit an die ehemaligen Häftlinge übergeben werden. „Dieses Modell wurde in Eigeninitiative des Fürsorgevereins entwickelt und wird seit mehreren Jahren mit Eigenmitteln betrieben. Wir bräuchten aber eine staatliche Förderung des Projekts“, sagt Andreas Mengler.

„Eine eigene Wohnung ist ein entscheidender Faktor für eine soziale Integration ohne erneute Straffälligkeit“, sagt Professor Bernd Maelicke von der Universität Lüneburg. Der Resozialisierungsexperte sagt, dass die meisten Entlassenen in ihre alten sozialen Verhältnisse zurückkehren. „Dort liegen aber zumeist auch Ursachen für ihre Kriminalität.“ Deshalb sei ein Neuanfang in einer eigenen Wohnung zumeist die bessere Alternative, zumal wenn diese von einem Bewährungshelfer oder einem Mitarbeiter eines freien Trägers der Straffälligenhilfe wie zum Beispiel dem Hamburger Fürsorgeverein begleitet werde. Dann geht es um Arbeit, Schuldenabbau, soziale Beziehungen oder Drogenabstinenz. „Im Gegensatz zu anderen Städten ist ein solches Netzwerk in Hamburg leider völlig unterentwickelt“, sagt Maelicke. „Es könnte erheblich mehr zur Rückfallreduzierung getan werden.“

Das Projekt Hundebande findet Maelicke „hervorragend“. Die Entlassenen könnten so Verantwortung übernehmen, erlebten Zuneigung und Lebensfreude der Hunde. „Und sie leisten einen dauerhaften Beitrag in der Unterstützung von Menschen mit einer Behinderung.“

Im November endet die Ausbildung von Molly. Dann kehrt die Hündin zu ihrer Trainerin zurück, um den Feinschliff als zukünftiger Blindenführhund zu bekommen. Einmal, erzählt Uwe, hätten sie Besuch von zwei Blinden bekommen. Da haben sie zum ersten Mal erfahren, wie lang die Warteliste für Blindenführhunde ist. Und was für eine extreme Bereicherung ein ausgebildeter Hund für blinde Menschen sein kann.

Uwe ist voller Bewunderung für die Menschen, die dieses Projekt initiiert haben. Daran, dass er Molly schon in einigen Wochen wieder abgeben muss, verschwendet er noch keinen Gedanken.