Bombennächte und Wiederaufbau, Liebe und Leid – über Monate haben neun Senioren mit neun Jugendlichen über ihre Biografien gesprochen. Am Sonnabend beginnt das Kulturfest mit Senioren und Jugendlichen.

Langenfelde. An seinem ersten Tag als Lehrling pochte sein Herz wie verrückt. Günther Bürckel ist um halb sechs Uhr morgens aufgestanden und hat sich eine halbe Stunde später mit dem Fahrrad von der Rombergstraße in Eimsbüttel auf den Weg zu Kampnagel gemacht. Der 14-Jährige beginnt eine Lehre in der Maschinenfabrik in Winterhude am Osterbekkanal. Sieben Jahre nach Kriegsende muss Hamburg wieder aufgebaut werden. In der riesigen Maschinenhalle werden sämtliche Decksmaschinen für die Schiffe gebaut. Die gesamte Ladetechnik – Ankerwinden, Krane, Getriebeteile. Der Hafen muss wieder florieren, das ist in diesen Zeiten das Wichtigste. Da wird jede Hand gebraucht.

Günther Bürckel fängt 1952 eine Lehre zum Maschinenschlosser an, er bekommt 35 Mark im Monat. Die Lehrstelle ist ihm sehr wichtig. Er will seinen Vater, der als Schweißer bei Kampnagel arbeitet und ihm ein Vorstellungsgespräch in der Personalabteilung besorgt hat, nicht enttäuschen. Nach dem Hauptschulabschluss reicht das Geld für den einzigen Sohn nicht zum Besuch des Gymnasiums. „Bald werde ich meine Familie finanziell unterstützen, vielleicht werden wir dann keinen Abend mehr ohne Essen haben“, hat Günther Bürckel erzählt. Und Beyza Erdur hat seine Geschichte aufgeschrieben.

Die 19 Jahre alte Abiturientin der Stadtteilschule Stellingen und der 76 Jahre alte Rentner aus Langenfelde haben sich in den letzten Monaten mehrmals ein paar Stunden lang zusammengesetzt. Neun junge Autoren haben neun Senioren aus dem Nachbarschaftstreff „Linse“ aus ihrem Leben erzählen lassen. Herausgekommen ist ein beeindruckendes Biografieprojekt mit Texten, Bildern und Tagebuchauszügen aus Hamburg vom Ende der 30er-Jahre bis in die heutige Zeit: „Lebensgeschichten aus der Linse“. Auch das kann Schule heute leisten.

„Die Recherche in Büchern oder im Internet kann erlebte Geschichten nicht ersetzen“, sagt Cläre Bordes, Öffentlichkeitsbeauftragte der Stadtteilschule Stellingen. „Die Jugendlichen haben durch die Zeitzeugen Geschichte lebendig erfahren. Und es sind Freundschaften entstanden.“

Seit mehr als 50 Jahren lebt Günther Bürckel, der zwei erwachsene Kinder hat, mit seiner Frau nun schon in dieser Wohnsiedlung am S-Bahnhof Langenfelde, die ihren Namen durch die linsenförmige Form zwischen zwei Bahnlinien erhalten hat. Wo bis Anfang der 1960er-Jahre nur Kleingärten standen, befinden sich heute Genossenschaftswohnungen. Gerade werden die beiden Hochhäuser aufwendig saniert und erstrahlen bald in neuem Glanz. „Auch hier wird immer mehr verdichtet“, sagt Günther Bürckel, trotzdem sei in Langenfelde immer noch genügend Grün.

„Ich interessiere mich sehr für Geschichte und für andere Menschen, und außerdem schreibe ich gerne“, sagt Beyza. Deshalb hat sie sich für das Projekt, neben dem Abiturstress, gemeldet und erst einmal von einer Vorliebe Abschied nehmen müssen. „Ich schreibe gerne lange und verschachtelte Sätze.“ Unter der Anleitung der Autorin Katrin McClean hat sie sich kürzer gefasst. Und so erfährt der Leser eine Menge über die Zeit und das Arbeitsleben in Hamburg, als auf Kampnagel die Sirenen noch nicht als musikalische Darbietung erklangen, sondern als Zeichen für den Arbeitsbeginn ertönten.

Günther Bürckel hat in Tag- und Nachtschichten gearbeitet. Und nebenbei drei Jahre lang die Abendschule besucht, um seinen Meister zu machen. „Manchmal bin ich direkt nach der Schule wieder zur Arbeit gegangen oder umgekehrt, eine harte Zeit“, sagt er. 1968 hatte Kampnagel als Maschinenzulieferer ausgedient. Im Hafen gab es fast nur noch Containerschiffe, die Stückgutfrachter wurden langsam abgeschafft. „Als der Belegschaft das Ende verkündet wurde, sind alle sofort zum Telefon gerannt, um sich woanders einen neuen Job zu besorgen“, sagt Günther Bürckel. Ein halbes Jahr lang versuchten die Verbliebenen noch, auf Kampnagel 20-Fuß-Container zu bauen, dann war endgültig Schluss. Bürckel fand einen Job bei Desy und arbeitete dort in Bahrenfeld in der Werkstatt, bis er 2001 in Rente ging.

„Ich finde das Projekt so toll, weil es wichtig ist, dass die Jugendlichen wissen, wie wir gelebt haben“, sagt Bürckel. Beyzas Mitschülern Benan und Nathaniel hat er über seine Nächte im Bunker während des Zweiten Weltkrieges erzählt, als er fünf Jahre alt war. Wenn der Alarm losging, bekam er noch einen Zettel mit seinem Namen um den Hals gebunden. Dann sind sie raus auf die Straße und brauchten fünf Minuten bis zum Bunker. „Ich klammerte mich immer ganz fest an meine Mutter.“ Plötzlich schlug eine Bombe an einer Tür ein, und der Wächter wurde durch die Wucht der Bombe erschlagen. „Das sind Bilder, die man nicht vergisst“, sagt Günther Bürckel. Damals habe es in Hamburg so ausgesehen wie heute in den zerbombten Städten in Syrien, Palästina oder im Irak. „Das können sich die Jugendlichen heute gar nicht mehr vorstellen“, sagt er. „Unser Haus in der Rombergstraße wurde verschont, aber ab der Schwenckestraße bis zur Fruchtallee war alles zerstört. Alles lag in Trümmern.“

Günther Bürckel hat geholfen, diese Stadt wieder mit aufzubauen. Manchmal fragen ihn auch seine vier Enkel nach der alten Zeit. „Die können das jetzt alles auch nachlesen“, sagt er.