Marode Straßen, fehlende Verkehrswege – unserer Infrastruktur fehlen 50 Milliarden Euro. Fließt zu viel Geld in den Süden des Landes? Jede dritte Straße in der Hansestadt gilt als Sanierungsfall.

Alle 0,85 Sekunden ein Personenauto. Alle vier Sekunden ein Lastkraftwagen. Wer am Wördemanns Weg im Hamburger Stadtteil Stellingen auf der über die Autobahn 7 führenden Brücke steht, kann für gewöhnlich sein eigenes Wort nicht verstehen. Bis zu 155.000 Fahrzeuge passieren täglich das Teilstück zwischen dem Elbtunnel und dem Nordwestkreuz. Damit gehört es zu den meistbefahrenen Autobahnabschnitten Deutschlands.

In gut sechs Jahren wird es am Wördemanns Weg um vieles ruhiger sein. Der Autoverkehr auf den dann acht Fahrbahnen ist in einem Lärmschutztunnel verschwunden. Auf der Tunneldecke können Spaziergänger an Wiesen und Bäumen entlangflanieren. Der Bund wird den Lärmschutztunnel bezahlen, auch wenn der Baubeginn erst für 2016 ins Auge gefasst ist. Der Grund: Das Projekt wurde im aktuellen Bundesverkehrswegeplan verankert.

Daran ändert auch nichts, dass in Berlin gegenwärtig über den Bundesverkehrswegeplan für die kommenden zehn Jahre verhandelt – besser: gestritten – wird. Dabei geht es um Milliarden an Euro, die der Bund im kommenden Jahrzehnt in die Verkehrsinfrastruktur steckt. Vor allem geht es darum, wo er das tun wird.

Es geht um begehrte Investitionen im Wert von jährlich 4,8 Milliarden Euro

Rund 4,8 Milliarden Euro kann das Bundesverkehrsministerium derzeit im Jahr für die Projekte des Bundesverkehrswegeplans ausgeben. Zwar wird in fünf Jahren geprüft, ob der Bedarf an den jetzt angemeldeten Projekten, mit deren Umsetzung bis dahin nicht begonnen wurde, noch besteht. Aber wer nicht von Anfang an dabei ist, läuft Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten.

Alle Bundesländer haben in einer ersten Runde ihre Projekte angemeldet, und es zeichnet sich ab, dass dieses Mal das Ringen um die begehrten Investitionen besonders heftig wird. Überall in Westdeutschland gehören Schlaglöcher, marode Fahrbahnen, in die Jahre gekommene Schleusen und sanierungsbedürftige Brücken inzwischen zum Alltag.

Rund 20 Prozent der Autobahnstrecken und 41 Prozent der Bundesstraßen hätten die als Warnwert geltende Zustandsnote 3,5 überschritten, heißt es in einer im Frühjahr veröffentlichten Studie des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (DIW).

In Hamburg ist es zwar nicht ganz so schlimm. Aber für Entwarnung gibt es auch hier keinen Grund. Bei einer Untersuchung im Jahre 2012 wurden 35,7 Prozent der Hauptverkehrsstraßen oberhalb des Warnwertes von 3,5 eingeordnet. Sollte eine Straße mit 4,5 oder schlechter benotet werden, muss sie dringend repariert werden. Die Note von 3,5 gilt allerdings als Warnschwelle.

Für die Verkehrswege bundesweit fehlen mehr als 50 Milliarden Euro

Die Probleme mit der Verkehrsinfrastruktur sind hausgemacht. Bund und Kommunen hätten in den vergangenen Jahren nicht ausreichend investiert, um die Infrastruktur auf dem gewünschten Qualitätsniveau zu erhalten, schreiben die Experten des DIW. Zu einem ähnlichen Befund kommt die Hamburger Wirtschaftsbehörde: In Spitzenzeiten sei das Straßennetz in Teilbereichen überlastet.

Die DIW-Forscher schätzen die Lücke bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur bundesweit auf mehr als 50 Milliarden Euro. „Heute geht es eher um eine effiziente Mangelverwaltung, denn die Verkehrswege sind erheblich unterfinanziert“, schreiben die Wissenschaftler und fordern: Es muss mehr Geld ins System. Bei Politikern stoßen sie damit auf offene Ohren.

Der Bundesrechnungshof sieht das etwas anders. Vizepräsident Christian Ahrendt warf im Frühjahr in einem Zeitungsinterview dem Bundesverkehrsministerium vor, den Sanierungsstau bei Straßen durch den falschen Einsatz von Steuergeld mit zu verursachen. „Manche Ausgaben werden zweckentfremdet eingesetzt. Statt in die Straßenerhaltung zu investieren, wird zu oft in Neubauten investiert.“

In den Jahren 2010 bis 2012 seien 878,8 Millionen Euro, die für die Erhaltung der Bundesfernstraßen vorgesehen gewesen seien, für andere Zwecke verwendet wurden, fand der Bundesrechnungshof heraus. „Das sind 13 Prozent der eingeplanten Mittel, die trotz eines sich verschlechternden Zustands der Bundesfernstraßen nicht deren Erhaltung zugutekamen.“

Auf Hamburg bezogen geht die Wirtschaftsbehörde davon aus, dass in den kommenden Jahren mindestens 72 Millionen Euro pro Jahr ausgegeben werden müssen, um den Substanzverlust aufzuhalten.

Eine Debatte über die Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur gebe es schon lange, bestätigen Verkehrsexperten. Das Problem: Einsparungen beim Etat für die Verkehrsinfrastruktur spülen sofort mehr Geld in andere Kassen, machen sich aber auf den Straßen und Schienen oft erst Jahrzehnte später bemerkbar. Die verantwortlichen Politiker sind dann längst nicht mehr im Amt.

Zudem hat sich in der Gesellschaft die Stimmung inzwischen wohl grundlegend geändert. Verkehrspolitiker haben es immer schwerer, sozialstaatliche Ansprüche in die Schranken zu weisen. In moralisch geführten Diskussionen finden ihre sachlichen Argumente wenig Platz. Nicht zuletzt kommen Baustellen beim Wahlvolk nicht gut an. Spatenstiche sind aus Politikersicht deutlich attraktiver.

Das Problem: Für die kommenden zehn Jahre prognostizieren Verkehrsexperten zunehmenden Verkehr. Im Jahr 2025 werden etwa 2200 Kilometer des etwa 13.000 Kilometer langen deutschen Autobahnnetzes an mehr als 300 Stunden im Jahr überlastet sein, heißt es aus dem Bundesverkehrsministerium.

Die Hauptursache ist die zunehmende weltweite Arbeitsteilung. Jedes fünfte Fahrzeug auf der Autobahn ist inzwischen ein Lastkraftwagen, auf Bundesstraßen ist jedes achte ein Lkw. „Wir erleben seit der Jahrtausendwende eine Entwicklung, bei der die Straße zum Teil zur Lagerstätte wird“, sagt Philine Gaffron, Verkehrswissenschaftlerin an der TU Hamburg-Harburg. „Um teure Flächen zu sparen, werden Waren und Güter sozusagen ‚just in time‘ geliefert.“

Eingang in den Plan finden nur noch Projekte, die mehr nützen als kosten

Der Bundesverkehrswegeplan soll helfen, die Investitionen des Bundes sinnvoll einzusetzen. Eingang in den Plan finden daher nur Infrastrukturprojekte, die als gesamtwirtschaftlich sinnvoll gelten; wenn also die Summe aller Nutzen größer ist als die Investitionskosten. Damit ein Projekt überhaupt berücksichtigt wird, muss das Nutzen-Kosten-Verhältnis bei über 1,0 liegen.

Experten kritisieren allerdings seit Jahren, dass Bundesverkehrswegepläne (BVWP) eher das Wünsch- als das Machbare abbilden. Beispielhaft steht dafür noch der geltende, aus dem Jahr 2003 stammende Plan. Mehr als 50 Prozent der als vordringlich vorgesehenen Projekte werden bis zur Aufstellung des neuen Planes im kommenden Jahr nicht realisiert sein.

„Nach zwölf Jahren Laufzeit des BVWP 2003 ist das noch offene Finanzvolumen mit circa 86 Milliarden Euro nahezu genauso hoch wie der ursprüngliche Ansatz des vordringlichen Bedarfs von 90,5 Milliarden Euro“, heißt es in einem Papier des Bundesverkehrsministeriums.

Die Gründe für diesen negativen Befund sind vielfältig. Oft wurden Projekte angemeldet, bei denen die Planung fehlt oder strittig ist. Bei anderen Projekten unterschätzten die Behörden den Widerstand bei Anwohnern. Verzögerungen von teilweise vielen Jahren sind nicht selten die Folge. Der Hamburger CDU-Bundestagsabgeordnete und Verkehrsexperte Dirk Fischer schätzt die ökologisch und demokratisch bedingten Mehrkosten auf 25 Prozent.

Fischer führt die „Bugwelle unerledigter Projekte“ auch darauf zurück, dass die Bundesländer bei der Anmeldung die Baukosten aus taktischen Gründen zu gering ansetzten. So sollte die vierte Elbtunnelröhre laut Planung 800 Millionen Euro kosten. „Am Ende mussten rund 1,6 Milliarden Euro dafür aufgewendet werden“, sagt Fischer.

Bislang galt bei der Vergabe der Mittel im Bundesverkehrswegeplan der sogenannte Königsteiner Schlüssel, der auf Bevölkerungsdichte und Wirtschaftskraft des jeweiligen Bundeslandes fußte. Die Frage, ob ein Bundesland als Transitland überregional besonders wichtig ist, spielte dagegen kaum eine Rolle.

Darauf verweisen in der aktuellen Debatte besonders gern die norddeutschen Verkehrspolitiker. Schließlich seien Schleswig-Holstein und Hamburg aufgrund ihrer geografischen Lage wichtige Transitländer für die Anbindung Nordeuropas an den europäischen Kontinent.

Nur noch 38 Prozent der Mittel sollen nach Länderquoten verteilt werden

Beim Bundesverkehrswegeplan 2015 will die Politik vieles anders machen. Grundlage der Auswahl von Verkehrsprojekten bleibt zwar die Entwicklung der Verkehrsströme. Aber lediglich 38 Prozent der Finanzmittel sollen nach Länderquoten verteilt werden. Ein Infrastrukturprojekt hat künftig nur eine Chance, wenn es für Deutschland verkehrsstrategisch unverzichtbar ist. Das Hauptaugenmerk ruht dabei auf überregionalen Hauptachsen.

Das Geld werde dorthin fließen, wo ein Engpass bestehe, sagt CDU-Experte Dirk Fischer. Die Interessen der einzelnen Länder rückten in den Hintergrund. Außerdem erhalte die Instandhaltung von Straßen und Schienen Vorrang vor dem Neubau.

Die Veränderungen bedeuteten allerdings nicht automatisch, dass der Norden künftig mehr vom Finanzkuchen abbekommen werde, glaubt Fischer. Schließlich litten viele Trassen, die in südlichen Bundesländern die wirtschaftlichen Zentren verbinden, unter einem dramatischen Sanierungsstau.

Wenn künftig 80 Prozent der Investitionsmittel für die Beseitigung von Engpässen eingesetzt werden sollten, wiege die überregionale Bedeutung von Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg schwer, sagt Fischer.

Um die knappen finanziellen Mittel effizienter einzusetzen, sollen Verkehrsprojekte vor ihrer Aufnahme in den Bundesplan in Sachen Kosten und Optimierungspotenzial künftig stärker geprüft werden. Damit wollen die Entscheider Inflation und Preissteigerungen beim Straßen- und Brückenbau bereits bei der Planung mehr als bisher berücksichtigen.

Der Eindruck, dass der Norden über Jahrzehnte bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur benachteiligt wurde, täuscht etwas, auch wenn der Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Enak Ferlemann, erst kürzlich sagt, jetzt sei der Norden dran, was Großprojekte angehe.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten hätten Sanierung und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Ostdeutschlands (Aufbau Ost) Vorrang gehabt, sagt Dirk Fischer. Die Konzentration auf den Osten ging zulasten Westdeutschlands.

Der ehemalige Wirtschaftsstaatsrat Gunther Bonz, inzwischen Präsident des Unternehmensverbandes Hafen Hamburg e.V., sieht die Benachteiligung des Nordens jedoch kritischer als der Politiker Dirk Fischer. Die vierte Elbtunnelröhre beispielsweise sei nicht nach Bedarf bereits in den 70er-Jahren, sondern erst Jahrzehnte später nach Kassenlage gebaut worden.

Auch die Konkurrenz der deutschen Seehäfen untereinander habe im Ringen um Infrastrukturinvestitionen viele Jahre die Position der norddeutschen Bundesländer geschwächt. Der Ausstieg Hamburgs aus der Beteiligung am Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven durch den CDU-geführten Senat sei ein Fehler gewesen, sagt Bonz.

Südliche Bundesländer arbeiten bereits seit Langem eng zusammen

Allerdings waren die vergangenen Jahrzehnte auch dadurch geprägt, dass die südlichen Bundesländer – allen voran Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – bei der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur sehr eng zusammenarbeiteten.

Speziell Bayern, das räumen norddeutsche Verkehrspolitiker durchaus neidvoll ein, gelang es, zusätzliche Mittel zu generieren. Dazu nutzte das Bundesland den sogenannten Swing. Das war Geld, das für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur bereits verplant, aber im Planungsjahr nicht ausgegeben wurde.

Verkehrsexperten schätzen die Höhe des Swing auf drei bis vier Prozent des Gesamtetats. Diese „Etatreste“ wären dem Verkehrsministerium im darauffolgenden Jahr verloren gegangen.

Wenn am Jahresende in den Behörden das „Dezemberfieber“ ausbrach und das Geld innerhalb von drei, vier Monaten ausgegeben werden musste, konnte Bayern – im Gegensatz zu den norddeutschen Bundesländern – oft Projekte aus der Schublade ziehen, die Plan- und Baurecht hatten.

Betrachtet man die aktuelle Liste der für den Bundesverkehrswegeplan 2015 angemeldeten Projekte, so stammen allein 337 aus Bayern. Die meisten davon sind Ortsumgehungen – Projekte also, die nicht viel Geld kosten, politisch gut zu verkaufen und vor allem rasch umzusetzen sind.

Zwar wurde der Swing mit dieser Legislaturperiode abgeschafft und nicht ausgegebene Mittel können ohne Verlust in das darauffolgende Jahr übernommen werden. An der Notwendigkeit, bei der Planung von Verkehrsprojekten neue Wege zu gehen, hat sich aber nichts geändert.

In Hamburg wurde jetzt die Haushaltsplanung dahingehend verändert, dass die Behörden Projekte bereits planen können, ohne dass es eine Finanzierungszusage aus Berlin gibt.

Hat das Land Bayern, die Heimat des Verkehrsministers einen Vorteil?

Der Verdacht norddeutscher Politiker, der Norden sei bei der Vergabe der Finanzen für Verkehrsprojekte über Jahrzehnte benachteiligt worden, wird – wenig überraschend – im CSU-geführten Bundesverkehrsministerium nicht geteilt. Die jährliche Zuweisung der Mittel beruhe allein auf dem Bedarf eines Landes, heißt es. Von Länderproporz könne daher keine Rede sein.

Im Norden ist man hingegen nach wie vor davon überzeugt, dass die Mittel für die Verkehrsinfrastruktur regional unterschiedlich verteilt werden. Beispielsweise werfe das sogenannte Spatenstichprogramm des früheren Bundesverkehrsministers Peter Ramsauer (CSU) unmittelbar vor der Bundestagswahl 2013 Fragen auf, heißt es.

Demnach wurde 2012 und 2013 im Rahmen des Sonderprogramms im Süden eine Reihe von Verkehrsprojekten begonnen. Allerdings war bei diesen Projekten die Finanzierung nur für ein oder zwei Jahre gesichert. Schätzungen zufolge umfassen derartige Projekte ein Finanzvolumen von 1,5 Milliarden Euro. Die Höhe dieser Summe wird im Bundesverkehrsministerium bestätigt.

Der Vorwurf, dass der Süden bevorzugt worden sei, lasse sich allerdings nur schwer beweisen, da der Bund die Liste über diese Projekte nicht herausrücke, berichtet ein hochrangiger norddeutscher Verkehrspolitiker. Auch der Bundeshaushalt helfe in dieser Frage nicht weiter, da Verkehrsprojekte dort nicht einzeln aufgelistet würden.

Das Dossier entstand in einem gemeinsamen Rechercheprojekt mit dem NDR (Teil 2 folgt)