Fast 6000 Austritte im ersten Halbjahr in der Hansestadt. Michel-Pastor, Alexander Röder, vermutet einen Zusammenhang hinsichtlich der Veränderungen bei der Erhebung der Kirchensteuer.

Hamburg. Michel-Hauptpastor Alexander Röder weiß auch nicht mehr so recht, wie er die steigenden Kirchenaustritte noch erklären soll. „Die Menschen brauchen einen Anlass, um die Kirche zu verlassen. Das ist wie ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, sagt er. Im vergangenen Jahr sei es vor allem der Skandal um den katholischen Limburger Bischof Tebartz-von Elst gewesen. „Für manche ist es jetzt die veränderte Erhebung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge.“ Sehr bedauerlich sei das, so der Oberhirte von Hamburgs berühmtester Kirche, und es klingt ein bisschen resigniert. Inzwischen ist die Kirchenflucht auf jeder Sitzung des Kirchengemeinderats der Hauptkirche St. Michaelis Thema.

Denn: Deutlich mehr Hamburger als in den Vorjahren kehren derzeit ihrer Kirche den Rücken. Nach Recherchen des Abendblatts meldeten sich im ersten Halbjahr fast 6000 Protestanten in der Hansestadt bei der Nordkirche ab. Das ist eine Steigerung um fast 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In den Kirchenkreisen Hamburg-Ost und Hamburg-West, die jeweils auch Teile von Schleswig-Holstein umfassen, stieg die Zahl bis 30. Juni von 5126 (2013) auf 8126 (2014). Das ist besonders alarmierend, weil die Austrittszahlen schon im vergangenen Jahr gestiegen waren.

„Bei den Katholiken registrieren wir ebenfalls mehr Austritte, wenn auch auf niedrigerem Niveau“, sagt Wolfgang Peper, Fachamtsleiter Standesamt im Bezirk Hamburg-Nord auf Anfrage. Insgesamt haben in seinem Bereich in den ersten sechs Monaten 1592 Männer und Frauen ihren Austritt aus der Kirche erklärt. Nach Schätzungen gehörten etwa 20 Prozent der katholischen Kirche an. „Menschen treten vermutlich aus der Kirche aus, weil sie sich schon lange innerlich von ihr getrennt haben“, sagt der stellvertretende Sprecher des Erzbistums Hamburg, Martin Innemann. Auch er vermutet, dass die Änderungen im Steuerrecht der Auslöser sind. Genau gesagt werden könne das aber nicht, da die Gründe für den Austritt bei der staatlichen Behörde nicht erhoben werden.

Bereits seit Monaten verschicken die Geldinstitute Briefe an ihre Kunden, um über das neue automatische Einzugsverfahren zu informieren. Anders als bislang soll die Kirchensteuer auf Kapitalerträge wie Zinseinnahmen und Dividenden ab 1. Januar 2015 nicht mehr von den Steuerzahlern selbst in der Steuererklärung geltend gemacht werden, sondern von den Banken oder anderen Instituten einbehalten und über die Finanzverwaltung an die Kirchen abgeführt werden. Dafür müssen die Geldinstitute die Religionsangehörigkeit abfragen. „Das hat für Irritationen gesorgt“, sagt der Finanzdezernent der Nordkirche, Wichard von Heyden. Viele Betroffene seien verunsichert und hätten nicht verstanden, was die Banken plötzlich mit der Kirche zu tun haben. „Für manche ist das eine unheilige Allianz.“ Andere wurden durch die Schreiben überhaupt erst darauf aufmerksam, dass auch für Kapitalerträge die Abgaben an den Klerus fällig werden.

„Jedes Mal, wenn sich bei der Kirchensteuer etwas ändert, gibt es sofort mehr Austritte“, sagt von Heyden. Wichtig ist ihm zu betonen, dass es sich weder um eine neue noch um eine höhere Steuer handelt. „Eigentlich ist der automatische Einzug eine Vereinfachung für die Steuerzahler, der zudem zu größerer Steuergerechtigkeit führt.“ Bereits zum Jahresbeginn hatte die Nordkirche einen Informationsflyer gedruckt und eine kostenlose Telefon-Hotline geschaltet. Trotzdem sei es nicht gelungen, die Veränderungen zu erklären, so der Oberkirchenrat selbstkritisch. Es hakt noch an einer anderen Stelle. Bundesweit haben 375.000 Steuerpflichtige dem Datenaustausch widersprochen. Konkrete Zahlen für die Nordkirche liegen noch nicht vor. Schätzungen gehen von etwa 35.000 Steuerzahlern aus, die weiterhin selbst ihre Kirchensteuer auf die Kapitalerträge deklarieren – oder auch nicht.

In der Nordkirche setzt sich mit den sinkenden Mitgliederzahlen ein Trend des vergangenen Jahres fort. 2013 waren insgesamt 23.970 Menschen ausgetreten. Die fünftgrößte Landeskirche in Deutschland hat nach eigenen Angaben 2,25 Millionen Mitglieder und erstreckt sich über die Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern. Den größten Mitgliederverlust gab es 2013 mit 8506 Austritten in Hamburg, im Vergleich zu 2012 fast 30 Prozent mehr.

„Es ist ein Ausdruck fehlender Bindung“, sagt Hauptpastor Alexander Röder. Die Kirche müsse sich angesichts der Entwicklung immer wieder fragen, was sie tun kann, damit die Menschen bleiben. Schon jetzt gebe es zahlreiche Bemühungen. „Wir haben ein gutes Angebot für verschiedene Altersgruppen, das auch angenommen wird.“ In den Gemeinden würden ständig Ideen entwickelt, wie etwa Willkommensbriefe an Zugezogene. „Wichtig ist, dass die Türen der Kirche auch für die offen bleiben, die ausgetreten sind.“ 2013 sind 996 Menschen in Hamburg in die evangelische Kirche eingetreten. Im ersten Halbjahr 2014 waren es 456.