Heute 93 Jahre alter Mann soll am Mord an 560 italienischen Zivilisten beteiligt gewesen sein. Fall neu aufgerollt

Volksdorf. Seine Vergangenheit ist ein offenes Geheimnis. Seit Jahrzehnten wird der mittlerweile 93-jährige Volksdorfer Gerhard Sommer immer wieder von ihr eingeholt, auch wenn er selbst nichts davon wissen will. Seine Geschichte ist bekannt, aus Medienberichten. Viele Reporter haben versucht, mit dem öffentlichkeitsscheuen Mann zu sprechen. Meist ohne Erfolg. Linke Aktivisten demonstrierten vor dem Seniorenheim, in dem er heute lebt.

Möglicherweise wird er seine Zurückhaltung aufgeben und im Strafjustizgebäude Rechenschaft ablegen müssen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer erhebt, wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord an 560 Menschen, vorwiegend Frauen und Kinder. Als 24-jähriger Kompanieführer soll er an einem der schwersten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs im italienischen Bergdorf Sant’ Anna di Stazzema beteiligt gewesen sein.

Die von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft zusammengetragene Ermittlungsakte ist bereits auf dem Postweg in die Hansestadt. Dort wird sie spätestens Anfang kommender Woche erwartet. Auf dem gleichen Weg ist die schriftliche Ausführung einer Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe, die dem Fall die entscheidende Wendung geben könnte. Die Richter des dritten Strafsenats hatten am Dienstag entschieden, dass Sommer hinreichend tatverdächtig ist, an dem mit Granaten und Schusswaffen verübten Morden beteiligt gewesen zu sein. Gleichzeitig ordneten sie an, dass gegen den 93-Jährigen Anklage erhoben werden müsse. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass er am Tag des Verbrechens in Sant’ Anna di Stazzema war, dass er eine SS-Kompanie führte und als Einheitsführer Befehlsgewalt und Einfluss auf die Einsatzplanung hatte.

Weil Sommer aber in Hamburg und nicht in Baden-Württemberg wohnt und die Strafprozessordnung klare Zuständigkeiten vorgibt, bleibt die Anklageforderung aus Karlsruhe zunächst folgenlos. Erst wenn die hiesige Staatsanwaltschaft den Ausführungen der Richter folgt, könnte eine Anklage Realität werden. Möglicherweise ordnet sie auch weitere Ermittlungen an. Eines aber haben die Karlsruher Richter schon erreicht: Sie haben die Hoffnungen der Überlebenden des Massakers belebt, dass die Verantwortlichen doch zur Verantwortung gezogen werden.

Am 12. August 1944 hatten Angehörige des SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ das Dorf überfallen. Da die männlichen Bewohner bereits geflüchtet waren, richtete sich die Gewalt der Deutschen vor allem gegen die Kinder und Frauen. „Es wurde überall getötet, in den Häusern, den Ställen, auf dem Kirchplatz“, berichtete ein Überlebender. Die hilflosen Opfer wurden mit Maschinengewehren erschossen und von Handgranaten zerfetzt. Später wurden die Leichen in Brand gesetzt. Fast genau 70 Jahre ist es her, dass die Taten als Rache für Aktionen italienischer Partisanen verübt wurden. Verantworten musste sich bislang kein Beteiligter, obwohl Sommer und neun weitere SS-Männer 2005 von einem italienischen Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren.

Für Sommer hatte das Urteil keine Konsequenzen, da Deutschland keine Staatsbürger ausliefert. Hierzulande wurde seit 2002 gegen ihn und weitere Täter ermittelt. Federführend war die Staatsanwaltschaft Stuttgart, weil mehrere der 17 Beschuldigten in Baden-Württemberg lebten. 2012 wurden die Ermittlungen eingestellt: Die Morde hätten den Männern nicht nachgewiesen werden können. Alle anderen möglichen Straftatbestände, etwa Totschlag, waren längst verjährt. Erst der Hartnäckigkeit eines Überlebenden und seiner Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke ist es zu verdanken, dass die Aufarbeitung nicht stecken blieb. Sie beantragten ein Klageerzwingungsverfahren beim OLG Karlsruhe. Dies ermöglicht, die Arbeit der Staatsanwaltschaft nach der Einstellung von Ermittlungen richterlich überprüfen zu lassen.

„Das ist ein Riesenerfolg“, sagte Heinecke. „Endlich ist eine an der Faktenlage orientierte, richtige Entscheidung getroffen worden.“ Sie hoffe, dass unverzüglich Anklage gegen Sommer erhoben werde. „1944 wurden in der Toskana etwa 10.000 unschuldige Zivilisten ermordet. Die Überlebenden warten immer noch auf die Anerkennung ihrer Leiden durch den deutschen Staat. Es gibt eine Vielzahl von Beweisen, die direkt nach dem Massaker von den Alliierten erhoben wurden. Nach meiner Überzeugung kann Herr Sommer bei Einhaltung aller rechtsstaatlichen Garantien noch heute der Täterschaft am hundertfachen Mord in Sant’ Anna di Stazzema überführt werden.“

Sommer lebt heute zurückgezogen und isoliert in der Volksdorfer Seniorenanlage. „Ich habe noch nie mit ihm gesprochen“, sagt eine Bewohnerin. Der 93-Jährige sei von der Leitung von allen Gemeinschaftsaktivitäten ausgeschlossen worden. Einem Fernsehteam erklärte er vor zwölf Jahren, die damalige Zeit sei für ihn erledigt, er habe sich keine Vorwürfe zu machen und ein absolut reines Gewissen. Es war sein letztes öffentliches Statement.