Eine Mannschaft kann nicht alle Probleme lösen. Das musste Brasilien bitter erfahren

Als das Spiel, das in die Geschichte des Fußballs eingehen wird, gerade eine Minute vorüber war, kniete Brasiliens Abwehrspieler David Luiz mit geschlossenen Augen auf dem Boden, beide Hände gen Himmel gestreckt, seine Zeigefinger ragten empor. Er betete, fand aber keinen schnellen Trost. Minuten später weinte er in die Kameras, während ein paar Meter entfernt Torwart Julio Cesar in einem Redeschwall nicht mehr aufhören konnte zu betonen, wie sehr er Brasilien liebe.

Diese beiden Szenen und viele andere in dem denkwürdigen Halbfinale, in dem Deutschland mit 7:1 gegen den Gastgeber triumphierte, zeigten, wie übergroß die Last war, die die Spieler der Selecao mit sich durch dieses Turnier tragen mussten. Geweint wurde schon zuvor häufig, aber jetzt brachen alle Dämme – wie bereits sportlich in der ersten Halbzeit, als die Spieler beinahe handlungsunfähig waren und nur noch zuschauten. Das lag aber nicht nur an der Spielwucht der Deutschen, sondern auch am eigenen Gefühlschaos: Wir müssen doch für unser armes Land siegen, für die Menschen, ihren Stolz, für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, für die soziale Integration, vielleicht sogar für die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts und den Ruf in der Welt als aufstrebende Nation. Wer mit solchen Gedanken beschäftigt ist, sieht nicht, wie sich ein Gegenspieler im Rücken der Abwehr freiläuft. Aber im Spiel kommt es genau darauf an – und auf nichts anderes.

Die Überfrachtung und auch der Missbrauch des Sports ist nun keine Erfindung dieser Weltmeisterschaft; von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin über die Fußball-WM 1978 in Argentinien unter dem Folterregime der Militärdiktatur bis hin zu den Winterspielen in Sotschi – und das ist nur eine kleine Auswahl – überlagerten immer auch fremde Interessen den eigentlichen Wettkampf. Die Stellung des Sports in der Gesellschaft hat auch deswegen über die Jahrzehnte zugenommen, und das muss sich auch nicht nur negativ auswirken. Deutschland selbst erlebte 1954 durch den überraschenden Sieg bei der WM in der Schweiz einen allgemeinen Aufschwung. 1972 sah die Welt bei den Olympischen Spielen in München erstmals ein fröhliches, freundliches Land, das 1990 schon fast wiedervereinigt in gemeinsamer Freude den Titel gewann und 2006 der Welt und sich selbst zeigen konnte, wie lässig und offen diese neue Gesellschaft ist.

Der Unterschied zu der WM in Brasilien ist allerdings gewaltig: Hinter den Erfolgen stand nie eine Art Auftrag, es entwickelte sich vielmehr eine auch überraschende Eigendynamik, die dann zum Erfolg führte. Andersherum funktioniert es vielleicht in totalitären Staaten wie China, aber nicht in freien Gesellschaften, die sich Wohlstand und sozialen Ausgleich anders erarbeiten müssen als auf dem Fußballplatz oder in der Sporthalle. Eine Umverteilung nicht gelöster Probleme auf elf Kicker in gelben Leibchen, die durch einen gelungenen Doppelpass die Arbeitslosigkeit vergessen machen sollen – das kann so nicht funktionieren, und darunter litten die brasilianischen Spieler nicht nur in diesem Halbfinale, in dem sie zu allem Überfluss auch noch zeigen wollten, dass sie sich für ihren verletzten Starspieler Neymar in besonderer Weise engagieren. Dieser Rucksack war einfach viel zu schwer.

Die deutschen Nationalspieler haben ihren Sieg mit großer Würde gefeiert und für die Brasilianer tröstende Worte gefunden. Und sie haben sich gleich auf das Finale fokussiert, das diesen Sieg erst vergolden kann. Denn nur darum geht es jetzt: diesen Titel zu gewinnen. Warum? Nicht, weil Deutschland dann ein (noch) besseres, sorgenfreies Land werden würde. Sondern weil es großartig ist, in dieser wunderbaren, unberechenbaren und emotionalen Sportart mit seinem Können Weltmeister zu werden.