Der Kalif des Terrors: Die Ausrufung des Isis-Chefs zum „Beherrscher der Gläubigen“ fordert al-Qaida heraus

Der Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammed, der 632 ohne direkten männlichen Erben starb, führte in der Folge zum großen islamischen Schisma zwischen Sunniten und Schiiten. Die Schiat Ali, die Partei Alis, vertrat die Ansicht, der Prophet habe seinen Vetter Ali Ibn Ali Talib zum Nachfolger bestimmt. Die Mehrheit jedoch sah das anders und sprach sich für einen anderen Kandidaten aus. Abu Bakr, Vater von Mohammeds jüngster Frau Aischa und damit dessen Schwiegervater, wurde gewählt und nahm den Titel chalifat rasulillah an – Stellvertreter des Gesandten Gottes.

Später, unter den Umayyaden, stieg der Kalif sogar zum Stellvertreter Gottes auf Erden auf. Wie es Mohammed in Medina vorgelebt hatte, war der Kalif zugleich weltlicher und geistlicher Herrscher über die Muslime. Als die Macht im Orient und damit der Kalifentitel auf die osmanischen Sultane überging, erlebte das Kalifat seine letzte und schwächste Phase. Die Türken nutzten den Titel als Legitimation, um weite Teile der arabischen Welt beherrschen zu können. General Mustafa Kemal, genannt Atatürk, schaffte das Sultanat jedoch 1922 ab und 1924 auch das Kalifat. Seitdem hat es nur noch in unbedeutenden Sektenbewegungen Kalifen gegeben.

Die Ausrufung eines Kalifats durch die radikalislamische sunnitische Terrorgruppe Isis in den eroberten Territorien in Syrien und im Irak stellt eine Zäsur und zugleich eine mehrfache Herausforderung dar. Zum einen natürlich an den Westen, der nun damit rechnen muss, dass sich Abertausende Gotteskrieger von Tschetschenien bis Nigeria aufmachen werden, um das neu etablierte Reich Allahs auf Erden zu verteidigen und seine Grenzen von dort aus mit Feuer und Schwert möglichst weit auszudehnen. Weit mehr als damals das talibanische Afghanistan könnte ein erfolgreiches Isis-Kalifat zum Hort und Exporthafen des weltweiten Terrorismus werden. Damit geht die Sache uns alle an. Und der Irak ist somit mindestens dreigeteilt: in das sunnitische Kalifat, die schiitischen Gebiete sowie den De-facto-Kurdenstaat im Norden. Die Schiiten, hinter denen der mächtige Iran steht, können diese tödliche Bedrohung nicht einfach hinnehmen – nach den Massenmorden an Schiiten durch Isis stellt das Kalifat den ultimativen Fehdehandschuh dar. Fast 14 Jahrhunderte nach den ersten Kämpfen zwischen Sunniten und Schiiten dürfte sich dieser weltweite Bruderkrieg wieder blutig verschärfen.

Die Wiederbelebung des Kalifats war der ultimative Traum aller Dschihadisten. Das weltweit operierende Terrornetzwerk al-Qaida hat es weder unter seinem ikonischen Mitbegründer und Führer Osama Bin Laden noch unter seinem Nachfolger Ayman al-Zawahiri vermocht, dies zu bewerkstelligen. Die Ausrufung eines Kalifats, so verfrüht sie angesichts der unübersichtlichen militärischen Lage erscheinen mag, ist daher in erster Linie eine Herausforderung an al-Qaida. Als Kalif – und damit traditionell „Beherrscher der Gläubigen“ – kann Isis-Chef Abu Bakr al-Baghdadi, der praktischerweise den Namen des ersten Kalifen trägt, den Anspruch auf bedingungslose Gefolgschaft der Muslime erheben. Al-Qaida, ebenso sunnitisch wie Isis, hat damit nur zwei Möglichkeiten: den Kampf gegen Isis um die Vormacht und Deutungshoheit im Dschihadismus aufnehmen oder bedeutungslos werden.

Der Vormarsch von Isis zertrümmert mit der territorialen Integrität der Staaten Irak und Syrien zugleich die komplizierte Machtbalance in der Region. Sunniten wie Schiiten, der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei, Israel und der Westen haben viel zu verlieren und damit ein erhebliches Interesse an diesem Kampf. Es wäre unter diesen Umständen eine Überraschung, wenn dem Isis-Kalifat, ein Stachel im Fleisch fast aller großen Akteure im Nahen und Mittleren Osten, eine lange Herrschaft beschieden wäre.

Der Verfasser ist Chefautor des Hamburger Abendblatts