Mehr als 25.000 Biker knattern beim 31. Motorradgottesdienst durch die Stadt, unter ihnen auch ein Abendblatt-Reporter

Neustadt. Dieser Sonntagmorgen beginnt mit der Erkenntnis, dass eine Lederkombi innerhalb von sieben Jahren im Kleiderschrank um etwa drei Nummern schrumpft. So lange habe ich nicht mehr auf einem Bock gesessen. Aber wer dienstlich am 31. Motorradgottesdienst und dem anschließenden Konvoi teilnimmt, sollte vermutlich eine Vorbildfunktion erfüllen. „Fahre nicht schneller, als dein Schutzengel fliegen kann“, der mittlerweile schon legendäre Slogan des „MoGo“, ist die eine Seite. Schutzkleidung die andere. Meine Aufgaben lauten: Bauch einziehen, flach atmen, hoffen, dass die Reißverschlüsse halten, aber auch über Ernährungsumstellung nachdenken.

Als der Gottesdienst gegen 12.30 Uhr im Michel beginnt, parken nur knapp mehr als 25.000 Maschinen auf der Ludwig-Erhard-Straße, dicht an dicht, über alle sechs Fahrspuren. Tausende weitere Teilnehmer, die noch erwartet wurden, hatten mit Regen gerechnet und sind zu Hause geblieben. Ich fahre eine 850-ccm-Triumph-Speedmaster, die ich mir zwei Tage zuvor zum Üben ausgeliehen hatte – „damit Sie nicht gleich wieder runterfallen, Schuller“, hatte der Chef gesagt. Er wusste gar nicht, wie recht er hatte: Zwar würde ich mein Gefühl nicht Angst nennen, aber „großen Respekt“.

Den chromblitzenden Schlachtschiffen wie den „Ultra-Glides“, den „Intruders“ oder den „Goldwings“ ist mein modernes Motorrad optisch unterlegen. Den Oldtimern wie etwa einer 250-ccm-Adler, Baujahr 1954, sowieso. Aber es fährt sich gut für einen Wiedereinsteiger. Dabei ist der „MoGo“ auch ein einmal jährlich stattfindender Jahrmarkt der Eitelkeiten mit einem integrierten Appell an die Vernunft sowie Flaniermeile der Heldinnen und Helden der Straße, die den Unfalltod nicht fürchten oder ihm schon seit vielen Jahren erfolgreich ausweichen.

So wie Günther aus Bergedorf, ehemaliger Schlosser, 71, der auf seiner 1300er Honda VDX hockt und „Leute beobachtet“. Er fahre immer entspannt, sagt er. „Bloß sind mir in letzter Zeit zu viele Spinner unterwegs.“ Spinner? „Ja, die jüngeren Fahrer, die versuchen, mit ihren Maschinen das zu zeigen, was sie nicht können.“ Ein paar Meter lümmelt Jürgen, 63, ebenfalls in Rente, auf seiner Rocket III, die er dank 156 PS und einem Drehmoment von 200 Newtonmetern von null auf 100 in weniger als drei Sekunden beschleunigen könnte. „Ich rase nie“, beteuert er, „aber zusammen wiegen wir eine halbe Tonne. Ich will nur’n büschen Reserve beim Überholen haben.“ Jürgen wohnt beim Zollenspieker, dem beliebtesten Ausflugsziel der rund 50.000 registrierten Hamburger Motorradfahrer. Und ärgert sich über „die Bekloppten, die mit 140 über den Deich kacheln. Ich finde es gut, dass die Polizei dort strikt kontrolliert.“

Günther und Jürgen sind nicht die ältesten Teilnehmer am „MoGo 2014“. Überhaupt ist das Durchschnittsalter der Motorradfahrer gestiegen. 53 Prozent der Fahrer sind heute zwischen 40 und 59 Jahre alt (ich bin also Zielgruppe). War das Motorradfahren früher gängiges Verkehrsmittel, später ein Rebellions-Instrument gegen was auch immer, so stehen heute Fahrspaß und Genuss an erster Stelle. Gut ist: In den letzten zehn Jahren ging die Zahl der in Deutschland tödlich verunglückten Fahrer von 996 (2003) um mehr als ein Drittel zurück (2013: 568), während der Bestand an Motorrädern in Deutschland zunahm. Aber die Zahlen täuschen darüber hinweg, dass das Motorradfahren mit Abstand das gefährlichste Freizeitvergnügen ist. Denn die Gesamtkilometerleistung hat rapide abgenommen, doch auf den verhältnismäßig wenigen Freizeitkilometern ereignen sich nach wie vor erschreckend viele Unfälle, die meisten an Sonntagen zwischen 15 und 19 Uhr. Und: Mehr als 50 Prozent der Unfälle gehen auf überhöhte Geschwindigkeit und auf zu geringen Abstand zurück. „Motorradfahrer sollten aufhören, sich häufig als unschuldige Opfer zu sehen, vor allem gegenüber den Autofahren“, sagte unlängst Siegfried Brockmann vom Verband der Versicherer. Auffällig sei: Je schwerer die Unfallfolgen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um den Fahrer einer Sportmaschine handelte, mit 180 PS und mehr. „Steht 300 auf dem Tacho, fährst du das auch aus. Aber mir war das zu schnell. Ich habe die Maschine verkauft, nach einer Saison“, sagt Marco, 41, Zaunbauer aus Tespe bei Lüneburg. Solche „Supersportler“ seien nur für die Rennstrecke geeignet.“

Und Patrick, 41, Dachdecker aus Mümmelmannsberg nickt: „Eine Maschine beherrscht du nie. Ich bin 16 Jahre rumgeorgelt und habe diese Zeit zum Glück überlebt. Jetzt fahre ich was Gemütliches und genieße die Landschaft.“

Die Finanzbuchhalterin Berit, 49, hat erst vor einem Jahr den Führerschein gemacht, „als die Kinder endlich groß und aus dem Haus waren.“ Ihr Freund Helmut, der vor sechs Jahren wieder mit dem Motorradfahren angefangen hatte, animierte sie, zum „Freiheitsabenteuer Motorrad“. „Seitdem fahre ich defensiver Auto, mit viel mehr Abstand. Aber ich traue mich noch nicht, im Konvoi mitzufahren. Da bin ich doch lieber Sozia“, sagt sie.

Aus dem Michel wird die Predigt von Joachim Lenz übertragen, dem „Interims-MoGo-Pastor“. „Gott hilft dir wieder auf“, verspricht Lenz. In diesem Jahr sind bisher zwei Hamburger Motorradfahrer auf der Straße geblieben, im Vorjahr waren es insgesamt acht.

Dann werden endlich die Motoren angelassen. Es heult, es blubbert, es donnert, es stinkt. Stockend kommt der Konvoi in Gang, und erst nach gut 500 Metern in Fluss. Einige Biker ziehen die Kupplung während der Schleichfahrt und drehen den Gasgriff bis zum Anschlag. Vor allem diejenigen, die das Wort Schalldämpfer nicht kennen. Was den Zuschauern am Straßenrand jedoch offensichtlich egal ist. Sie jubeln und winken begeistert. Einmal im Jahr heißt es eben Spektakel und nicht Lärm. Ich bin nur heilfroh, dass ich meine Maschine nicht ein einziges Mal abgewürgt habe. Und je mehr Meter ich im Konvoi mitfahre, desto mehr fängt es wieder an zu kribbeln. Ja, ich werde wohl nächstes Jahr wiederkommen. Mit einem eigenen Motorrad.