Grüne stellen neuen Wohlfahrtsindex vor, in den auch Umweltfaktoren, Bildung oder Kriminalität eingehen. Große Ungleichverteilung als Hauptproblem

Hamburg. Wirtschaftskraft und Einkommen nehmen in Hamburg zwar zu – der allgemeine Wohlstand der Bürger jedoch ist heute niedriger als im Jahr 2000. Das ist das Ergebnis des am Donnerstag von den Grünen vorgestellten ersten „Regionalen Wohlstandsindex“ für die Hansestadt, den zwei Wissenschaftler in den vergangenen Monaten erarbeitet haben. Anders als beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), das allein die Wirtschaftsleistung zusammenfasst, gehen in die Berechnung dieses Wohlstandsindex auch Faktoren wie ehrenamtliche Arbeit, Ausgaben für Gesundheit und Bildung, Kosten durch Verkehrsunfälle, Kriminalität, Luftverschmutzung oder Lärm ein. Sie wirken sich entweder wohlfahrtssteigernd oder -senkend aus (siehe Tabelle). Eine wichtige Rolle spielt auch die Verteilung der Einkommen. Eine große Ungleichverteilung führt zu einem Sinken des Wohlfahrtsindex. Der jetzt vorgestellte Hamburger Wohlfahrtsindex (HWI) basiert auf den Indikatoren des Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), der erstmals 2009 für ganz Deutschland von den Wissenschaftlern Hans Diefenbacher und Roland Zieschank erstellt wurde.

Dass die Wohlfahrt in Hamburg seit Beginn des Jahrtausends gesunken ist, habe in erster Linie mit der hier sehr großen Ungleichverteilung der Einkommen in der Hansestadt zu tun, betonte Roland Zieschank von der Freien Universität Berlin bei der Vorstellung. Es sei zwischen 1999 und 2011 eine „deutliche Zunahme der Ungleichheit“ in Hamburg festzustellen, heißt es in der 142 Seiten starken Studie. „Vergleicht man das Niveau der Einkommensungleichheit zwischen 2005 und 2010 mit dem anderer Bundesländer, aber auch mit Gesamtdeutschland, so zeigt sich sowohl im bundesweiten als auch im westdeutschen Vergleich eine besonders ungleiche Verteilung in Hamburg.“ Allerdings wurde eine vergleichbare Untersuchung bisher nur in einigen Flächenländern, nicht aber in anderen Städten durchgeführt.

„Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in unserer wohlhabenden Stadt größer als in jedem anderen Bundesland“, betonte Grünen-Landeschefin Katharina Fegebank. „Die Studie zeigt, dass dies die Wohlfahrt in Hamburg deutlich mindert. Der Durchschnitt sagt nichts aus über die Lebenslagen an den Rändern.“ Sie erlebe in der Stadt die Abstiegsangst der Mittelschicht, Alleinerziehende am Existenzminimum, Senioren in der Altersarmutsfalle und Vollzeitjobber, die von ihrem Lohn nicht leben könnten. „Die Studie verstehe ich als klaren Auftrag an die Politik: Hamburg muss Wohlstand und Chancen gerechter verteilen.“ Um der Ungleichverteilung entgegenzuwirken, müsse in Bildung, soziale Stadtentwicklung und in Alten- und Seniorenarbeit investiert werden, so Fegebank.

Die Grünen fordern einen „neuen Blick“ auf unseren Wohlstand

Mit welchen konkreteren Maßnahmen ein Stadtstaat die Einkommensungleichheit mindern sollte, blieb bei der Vorstellung zunächst offen. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass die Autoren sich in der Studie zwar Dutzende Seiten lang über methodische Probleme ausbreiten, ihr Datenmaterial aber nicht nach Bezirken oder Stadtteilen aufschlüsseln. So blieben Fragen nach konkreten Folgerungen am Donnerstag unbeantwortet. Es gehe in erster Linie darum, eine Diskussion darüber anzustoßen, wie Fortschritt künftig gemessen werden solle, so die Grünen.

„Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt ist nicht neu, aber brennend aktuell“, sagte Fraktionschef Jens Kerstan. „Obwohl das BIP als Indikator für Wohlstand und Lebensqualität nicht taugt, ist es der vorherrschende Maßstab. Wir haben diese Studie beauftragt, weil wir dringend einen neuen Blick auf unseren Wohlstand brauchen. Der Wohlfahrtsindex bildet umfassend und ehrlich ab, wo Hamburg steht. Er rechnet beispielsweise auch Umweltschäden mit ein, die bei der herkömmlichen Wachstumsrechnung schlicht nicht auftauchen.“ Der Index ermögliche eine neue Perspektive. Er zeige, dass Wirtschaftswachstum nicht ohne Weiteres zu mehr Wohlfahrt führe. Damit der Index aussagekräftig werde und auch als Grundlage für politische Entscheidungen dienen könne, müsse der Index fortgeschrieben, die Untersuchung also wiederholt werden, so Kerstan.

Handlungsgmöglichkeiten vor allem im Hafen und beim Thema Verkehr

„Wir sehen diesen Index als eine Pilotstudie, auf der zukünftig aufgebaut werden kann“, sagte Mitautor Roland Zieschank. „Die Diskussion um die gesellschaftliche Wohlfahrt darf nicht nur in Fachkreisen geführt werden. Diese Debatte braucht eine breite politische Öffentlichkeit. Wir hoffen, dass wir dazu in Hamburg einen wichtigen Anstoß geben.“

Auf die Frage, was Hamburg denn tun könne, um die Wohlfahrt seiner Bürger zu steigern, sagte Zieschank, er sehe die größten Handlungsmöglichkeiten in den Bereichen Hafen und Verkehr. So trage der Hafen sehr stark zur Luftbelastung bei, obwohl die Frachtverkehre seit Jahren nicht mehr gewinnbringend seien. Wenn Hamburg auf „grüne Logistik“ setze, könne die Wohlfahrt gesteigert werden. Ähnliches gelte für den Individualverkehr, hier wirke sich eine Reduktion von Abgasen und Lärm wohlfahrtssteigernd aus.

Auch bundesweite Untersuchungen haben zuletzt gezeigt, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen nicht automatisch mit den Durchschnittseinkommen wächst. Seit 1970 hat die Zufriedenheit abgenommen – trotz eines deutlichen Anstiegs des Pro-Kopf-Einkommens. Die Bürgerschaftsfraktion der Grünen will die Studie am heutigen Freitag mit Experten aus der Hamburger Wirtschaft in der Jugendmusikschule auf einem Kongress mit dem Titel „Her mit dem guten Leben“ diskutieren. Dort sollen auch „konkrete Ideen und Maßnahmen für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik entwickelt werden“.