Hamburger Begegnungen: Das Abendblatt bringt Menschen zusammen, die den gleichen Beruf haben, aber in zwei Welten leben.

Hohenfelde . Treffpunkt „Pappnase“ am Grindel. Zauberartikel werden dort feilgeboten, Jongliersachen, Spielzeug, Außergewöhnliches. Christine Schroth sieht eine Frau, die sie von irgendwoher flüchtig kennt. Schon wieder auf dem Heimweg, macht sie doch noch kehrt, kommt ins Gespräch. Die innere Stimme. Rückblickend ist es eine wundersame Begegnung der wegweisenden Art. Denn wenig später, im April 2007, gründen beide eine hausärztliche Gemeinschaftspraxis – so wie es sich Christine in einem Schulaufsatz während der zweiten Klasse vorgestellt hatte.

Auch Christian Müller kann sich an einen Schlüsselmoment erinnern. Als Gymnasiast war das, Ende der zwölften Klasse, während des Sommerurlaubs mit Kumpeln in Frankreich. Der Kontakt mit einem jungen Arzt lässt den Entschluss reifen: „Ich möchte später Chirurg werden.“ So geschieht es dann auch. Zuvor in Teheran aufgewachsen, schafft er in Leverkusen das Abi, studiert in Italien, Südafrika und Bonn Medizin. Heute ist der Mann Chefarzt am Katholischen Marienkrankenhaus in Hohenfelde.

Diese beiden Erlebnisse mit schicksalhaftem Charakter inspirieren zu einer außergewöhnlichen Unterhaltung. Auf Initiative des Hamburger Abendblatts, im Rahmen unserer Reihe „Hamburger Begegnungen“, hat sich Dr. med. Christine Schroth der Zweite, so ihr richtiger Name, mit Prof. Dr. med. Christian Müller an einen Tisch gesetzt. Beide sind Profis erster Klasse, couragierte, angenehme Menschen zudem. Jeder auf seine Art, mit eigener Würde, Anspruch, Umfeld. Idealismus und Herzblut einen.

Trotz im Prinzip gleichen Berufs könnte der Alltag unterschiedlicher kaum sein: Er leitet einen Apparat mit 85 Mitarbeitern in einer der führenden Kliniken der Stadt; sie managt mit ihrer Mitstreiterin Annette Alberts (die Frau aus der „Pappnase“) und fünf überwiegend Teilzeit-Angestellten eine gut gehende Praxis in Winterhude.

Trotz anderer Vorzeichen gibt es Gemeinsamkeiten und Verständnis für den Job des anderen. Die Hand auszustrecken, im wahrsten Sinn des Wortes, den Blick über den Tellerrand zu richten, frei von Scheuklappen Neues zu erfahren: Typisch hamburgisch ist das. In Müllers Chefzimmer stehen Kaffee, Wasser, restliche Ostereier und auffällig viele Gummibärchen. Offensichtlich Seelennahrung in einem stressigen Umfeld.

Während sie praktisch als Einzelkämpferin wirkt, ist er verantwortlich für fünf Ober- und zehn Assistenzärzte. In seinem Bereich der Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie werden 4500 operative oder endoskopische Eingriffe pro Jahr durchgeführt. Fast 90 Prozent der Patienten werden stationär behandelt. Durchschnittliche Verweildauer in den 72 Betten der Station: 6,7 Tage. Chefarzt Müller nimmt sich während der Abteilungskonferenzen und Visiten so viel Zeit wie möglich für Einzelfälle. Um 6.30 Uhr fährt er von zu Hause in Othmarschen ins Marienkrankenhaus, vor 21 Uhr ist er selten wieder daheim. Der Sonnabend ist grundsätzlich halber Arbeitstag, sonntags nur im Notfall.

„Und wie sieht’s bei Ihnen aus, Frau Kollegin?“, fragt er sein Gegenüber. Frau Dr. Schroth berichtet von ihrer Arbeitsstätte im ersten Stock eines Altbaus an der Hudtwalckerstraße. Seit 1941 ist dort eine Hausarztpraxis untergebracht, seit sieben Jahren die eigene. Im vergangenen Quartal wurden 1100 Patienten gezählt. Die Zusammenarbeit mit ihrer Kollegin beschert einen freien Wochentag; am Wochenende ist geschlossen.

Was nicht heißen muss, dass die in Hamburg geborene Internistin dann ruht. Aus finanziellen Gründen absolviert sie für die kassenärztliche Vereinigung Notdienste mit Hausbesuchen vom Säugling bis zum Greis. Die Supervisorin hat viele Jahre Gruppen beim Institut für Trauerarbeit geleitet.

Dass sie seine Sprache und seinen Alltag versteht, liegt nicht nur an der medizinischen Ausbildung und ähnlichem Alter. Er ist 1957 geboren, sie 1958. Christine Schroth arbeitete früher nicht nur als Theaterärztin und im feministischen Frauengesundheitszentrum Hamburg, sondern mehr als 20 Jahre in verschiedenen Krankenhäusern. Die Tretmühle dort mit 36-Stunden-Diensten und Vollstress auf Dauer ist ihr mithin bestens bekannt.

Als die Kinder 1989 und 1993 zur Welt kamen, wechselte sie in Teilzeit. Der Ausstieg aus der Klinikwelt wurde von dieser Erkenntnis begleitet: „Ich schaffe das nicht, bis ich 65 Jahre alt bin.“ Sie habe oft das Gefühl gehabt, nie richtig fertig, meist gehetzt gewesen zu sein.

Das Plus an Selbstbestimmung und Freiheit bezahlt sie heute mit einem deutlich geringeren Verdienst. „Das ist katastrophal“, bekennt sie. „Eine Familie könnte man davon nicht ernähren.“ Andererseits werde diese finanzielle Einbuße „mit Sinnhaftigkeit“ bezahlt. Ganz bewusst gönne sie sich den Luxus, einem Patienten Ohr, Herz und Muße zu widmen – unabhängig von der Rentabilität aufwendiger Gespräche oder Hausbesuche. „Diese Selbstbestimmung macht mich zufrieden“, sagt sie. Luxus indes kann auch anders aussehen: Mittags radelt Frau Dr. Schroth heimwärts nach Harvestehude, gönnt sich ein kleines Essen und ein Nickerchen.

Davon kann Kollege Chefarzt nur träumen. Kein Wunder, dass er interessiert zuhört. Einstmals, erzählt er, habe er sich eine Existenz als Landarzt vorstellen können. Mit Zuständigkeit für persönlich bekannte Menschen in der Nachbarschaft. Und in aller Ruhe. Doch alles kam ganz anders. Ebenfalls bewusst, ganz gezielt. Unvergessen sind nicht nur der Zivildienst im Städtischen Krankenhaus Leverkusen, sondern auch die Vorstellung im Marienkrankenhaus Anfang dieses Jahrtausends. „In Hamburg brauchen wir gute Chirurgen“, meinte der Taxifahrer auf dem Weg vom Hauptbahnhof in die Alfredstraße in Hohenfelde. Der Mann muss ein Prophet gewesen sein.

Diese Episode, auch so etwas wie ein Schlüsselmoment, gibt dem ohnehin anregenden Gespräch weitere Fahrt. Mehr als zwei Stunden vergehen wie im Fluge. „Vermissen Sie es, keinen Chef mehr zu haben“, fragt sie ihn. Als Selbstständige weiß sie, wovon die Rede ist. „In einer Gemeinschaft fühlt man sich sicher“, entgegnet Chefarzt Christian Müller. „Anfangs ja“, antwortet er, selbst ein bisschen überrascht. „Plötzlich war ich der Älteste und Hauptverantwortliche.“ Beides sei ungewohnt gewesen.

Weitere Themen werden im Sauseschritt gestreift: Gemeinsame Kollegen und Erfahrungen, Zuwendung für Kranke, Einsatz über das Muss hinaus, Praktika von Erstsemester-Studenten bei ihr und ihm, Freundeskreis des Marienkrankenhauses, aber auch über die schon erwachsenen Kinder, über Hobbys und Urlaubspläne wird gesprochen. Teilweise ungerechte Honorare und bürokratische Hemmnisse kommen gleichfalls zur Sprache, sind allerdings ein Kapitel für sich.

Vor der Stippvisite in der Notaufnahme des Marienkrankenhauses geht es noch einmal um Grundsätzliches, um den Unterschied zwischen Job und Berufung im Spannungsfeld eines außerordentlichen Einsatzes. Den Umgang mit Stress kann man lernen, da sind sich beide einig. Zum Beispiel mithilfe eines „ordnenden Halts“, wie Müller seinen persönlichen Trick nennt. Inmitten sich türmender Arbeit zehn Sekunden stehen, kurz sinnieren, an das Wesentliche denken, dann neu durchstarten.

Früher in München, während Wochen mit mehr als 100 Stunden Arbeit, habe er sich schon mal gesagt: „So ein Leben als Pförtner hat auch seine Vorteile.“ Frau Dr. Schroth ergänzt ähnliche Anflüge aus vergangenen Tagen: „Bisweilen wäre ich durchaus gerne Bäckereifachangestellte gewesen.“ Wenig später hätten bei beiden wieder Freude und Idealismus Oberhand gewonnen.

„Ich habe einen Traumberuf, der enorme Erfüllung bringt“, sagt Christian Müller zum Ausklang eines spannenden Gesprächs. Christine Schroth nickt zustimmend. Gerade hat sie einen Artikel für ein Fachmagazin formuliert. Die Überschrift ist – bei aller Kritik – Programm: „Vom Glück, Hausärztin zu sein.“