Wende im Fall des zu Tode geprügelten Kleinkinds: Vater nicht mehr hauptverdächtig. Staatsanwaltschaft wirft 27-Jähriger „Grausamkeit“ vor

Billstedt . Überraschende Wende im Fall Yagmur: Das dreijährige Mädchen aus Billstedt, das vor vier Monaten an den Folgen massiver Misshandlungen starb, soll von seiner Mutter und nicht – wie bislang angenommen – von seinem Vater totgeprügelt worden sein. Dies geht aus der Anklageschrift hervor, die den beiden in U-Haft sitzenden Eltern jüngst zugestellt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Mutter Anklage wegen Mordes erhoben. Dem Vater, der lange als Hauptverdächtiger galt, wird nur noch Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen vorgeworfen.

„Der Tatverdacht hat sich umgekehrt“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwältin Nana Frombach und bestätigte damit einen Bericht der „Bild“-Zeitung. Die Behörde wirft dem Paar zudem Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht vor. Nach Angaben der Ermittler ist die heute 27-jährige Melek Y. nach den jüngsten und überaus überraschenden Ermittlungsergebnisse für den Tod von Yagmur verantwortlich. Die Dreijährige, die seit ihrer Geburt von Jugendämtern betreut worden war, war am 18. Dezember in der Wohnung ihrer Eltern an den Folgen eines Leberrisses gestorben.

„Wir gehen im Moment davon aus, dass die Mutter diejenige war, die Gewalt gegen das Kind ausgeübt hat“, sagt Nana Frombach. Weil Yagmur so viele schwere Verletzungen hatte, sah die Anklagebehörde das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllt. Das Mädchen wurde schon ein Jahr vor seinem Tod mehrmals im Krankenhaus behandelt. Sie hatte eine lebensgefährliche Schädelverletzung, eine durch äußerliche Gewalteinwirkung entzündete Bauchspeicheldrüse und zahlreiche Blutergüsse.

Yagmurs Vater Hüseyin Y., 25, wird trotz der neuen Erkenntnisse nicht aus der U-Haft entlassen. Er bestreitet, von den Misshandlungen gewusst zu haben. Die Staatsanwaltschaft geht aber davon aus, dass er wusste, dass seine Frau die Tochter misshandelte und dennoch nichts dagegen unternahm. „Wir haben ihm aber mit der Anklage nicht vorgeworfen, selbst zugeschlagen zu haben“, sagt Frombach. Er müsste mindestens drei Jahre in Haft, sollten die Richter der Argumentation der Staatsanwaltschaft folgen. Der 27-Jährigen droht eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.

„Der ursprüngliche Tatverdacht basierte weitgehend auf den Angaben der Mutter“, erklärt Frombach. Sie hatte in den Vernehmungen den Verdacht auf den 25-jährigen Vater gelenkt und wiederholt behauptet, er habe seine Tochter regelmäßig geschlagen. Der Vater hingegen hatte von Anfang an bestritten, für den Tod von Yagmur verantwortlich zu sein. Seine Frau belastete er aber nicht. Die Vernehmungen von Freunden, Verwandten, Erziehern und die Auswertung von Handydaten hätten aber ergeben, dass die Version der Mutter nicht stimmen könne, so Frombach.

Yagmur war nach ihrer Geburt im Oktober 2010 von einer Pflegemutter aufgenommen worden, weil sich die Eltern überfordert fühlten. Sie behielten aber das Sorgerecht, Yagmur besuchte sie. Nach einer schweren Verletzung Anfang 2013 erstattete der Leiter der Hamburger Rechtsmedizin, Professor Klaus Püschel, Anzeige gegen unbekannt. Er war überzeugt, dass Yagmur misshandelt worden war. Die Staatsanwaltschaft ermittelte darauf gegen die Eltern und die Pflegemutter. Obwohl die Ermittlungen erst im November 2013 eingestellt wurden, weil nicht aufgeklärt werden konnte, wer dem Kind die Verletzungen zugefügt hatte, gab das Jugendamt bereits im Sommer 2013 dem Wunsch der Eltern nach, Yagmur wieder aufnehmen zu wollen. Ein Fehler, der wie viele andere in diesem Fall in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) der Bürgerschaft thematisiert werden soll.

Dort hatte am Montag auch Rechtsmediziner Püschel als einer der ersten Zeugen aussagen müssen. In seiner fast vierstündigen Vernehmung stellte er fest, dass er mit seiner Sorge um das Leben des Kindes nicht bei der Staatsanwaltschaft und den Jugendämtern durchdrang. Seine Anzeige sei, im Nachhinein betrachtet, vielleicht zu kühl formuliert gewesen, räumte er selbstkritisch ein. Der PUA-Vorsitzende André Trepoll (CDU) hatte darauf hinterfragt, warum sich Püschel nach der Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft mit seinen Vorwürfen nicht an das Jugendamt gewandt habe.

Rechtsmediziner: CDU will von Verantwortlichkeiten ablenken

Diese Kritik hat wiederum den bekannten Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos auf den Plan gerufen, der lange auch in Hamburg tätig war. Tsokos: Wenn die CDU Kritik an dem Verhalten von Püschel äußere, dann sei das nichts weiter als ein Versuch, von politischen Verantwortlichkeiten abzulenken. „Die CDU hätte zu Zeiten von Ole von Beust schon lange den Kurs im Hamburger Kinderschutz ändern müssen.“ Die Diskussion im Fall Yagmur müsse sich darum drehen, warum es im deutschen Kinderschutzsystem weder einheitliche Qualitätsstandards noch Qualitätssicherungsmaßnahmen gebe.

Es könne nicht sein, sagt Tsokos, „dass Politiker ihre eigene Verantwortung jetzt auf Klaus Püschel abwälzen, der mit der Erstattung der Anzeige schon nicht nur einen ungewöhnlichen Schritt gegangen ist, sondern auch etwas getan hat, was vor ihm sämtliche behandelnden Ärzte von Yagmur versäumt haben. Diese traurige Rolle der Kinderärzte im häufig bewussten Wegsehen bei offensichtlicher Misshandlung und Kindeswohlgefährdung ist in Berlin bereits hinlänglich bekannt und Gegenstand aktueller Diskussionen.“ Bei Püschel jetzt den Schuldigen auszumachen, obwohl er der Einzige gewesen sei, der versucht habe, Yagmurs Leben zu retten, sei „wirklich erbärmlich“.