In der Ukraine rief er Geister, über die er nun zunehmend die Kontrolle verliert

Das Wort Ukraine bedeutet Grenzgebiet. Der Name ist Programm – der Staat bildet derzeit die umkämpfte Grenze zwischen dem putinistischen Russland und dem Westen und balanciert zudem brandgefährlich auf einer schmalen Grenze zwischen Unruhen, Bürgerkrieg und Krieg. Der überraschende Vorschlag von Übergangspräsident Turtschinow für ein Referendum über eine mögliche Föderalisierung der Ukraine bietet einen denkbaren Ausweg aus der Eskalationsspirale – doch die bange Frage ist, ob er die auf beiden Seiten überhitzten Hirne noch rechtzeitig erreicht.

Die an Zynismus kaum zu überbietende Einlassung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, die Regierung in Kiew zeige ihre Unfähigkeit, Verantwortung für das Schicksal des Landes zu übernehmen, enthält eine unausgesprochene Drohung: dass Russland sich „gezwungen sehen“ könnte, diese Verantwortung für die Ukraine an sich zu reißen. Dabei ist das Land ja gerade aufgrund der von Russland gesteuerten Aggression im Osten der Ukraine und der Annexion der Krim in dieser prekären Lage.

Wladimir Putin gleicht Goethes Zauberlehrling, dem die Kontrolle über die von ihm heraufbeschworenen Geister entgleitet. Russland, dessen Wirtschaft stagniert und bislang schon mindestens 70 Milliarden Dollar an Kapital verloren hat, kann sich eine langwierige Konfrontation mit dem Westen nicht leisten, zumal Putin, wie sich nun im Sicherheitsrat zeigte, international isoliert ist.

Landraub als Ablenkung von eigenen Problemen unter Beschwörung nationaler Glorie und summarischer Anklage des Auslands sind rostige Instrumente aus dem 19. Jahrhundert. Anders als die EU, die sich bemüht, angrenzende Staaten zu stabilisieren, verfolgt Putin eine Negativ-Strategie. Wie EU-Kommissar Karel De Gucht darlegte, umgibt sich Russland mit einer Kette von politisch und wirtschaftlich „schwarzen Löchern“ wie die Ukraine und Weißrussland sowie mit „eingefrorenen Konflikten“ wie in Transnistrien, Abchasien und Südossetien. Putin schafft damit eine instabile und vom Kreml abhängige Umgebung, um Russlands Dominanz zu sichern. Es ist eine Strategie des kurzfristigen Vorteils, die langfristig kollabieren wird. Dass Russland nun die ukrainische Regierung davor warnt, gegen die Separatisten vorzugehen, und dem Westen die Verantwortung für einen Bürgerkrieg zuschieben will, ist eine Unverfrorenheit. Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass Moskau den Aufruhr in ostukrainischen Städten steuert und wohl dort auch eigene Truppen im verdeckten Einsatz hat. Den tschetschenischen Separatisten in der eigenen Föderation bringt Moskau sehr viel weniger Verständnis entgegen. Und um es „Russland-Verstehern“ noch einmal deutlich zu machen: Ein Referendum in einer kleinen Region eines souveränen Staates wie auf der Krim bietet keine völkerrechtliche Deckung für Separation und Anschluss an einen anderen Staat. Von Südtirol bis zum Baskenland wäre sonst die Hölle los in Europa. Putins Vorgehen ist illegal.

Turtschinows Vorschlag bezüglich einer ukrainischen Föderation von mehr oder minder autonomen Teilrepubliken ist zunächst taktischer Natur, um die Krise vorläufig zu entschärfen – denn alle Parteien müssten dieses Referendum erst einmal abwarten. Die Vorstellung, die östlichen Republiken könnten dann engere Bindungen zu Russland eingehen, die westlichen zur EU, käme den Separatisten natürlich entgegen. Eine wirkliche Lösung für die ethnische und politische Spaltung der Ukraine wäre dies allerdings nicht. Wichtig ist nun, dass der Westen bei weiter anhaltenden russischen Provokationen mit Augenmaß, aber gemeinsam und entschlossen handelt. Business as usual mit Moskau, wie es Vertretern der deutschen Wirtschaft profitabel vorschwebt, wird es unter Umständen nicht mehr geben können.