Der vom Ersten Bürgermeister verkündete Zukunftsplan „Aufschwung Ost“ sorgt in den betreffenden Stadtteilen nicht nur für Jubelstürme. Vor allem im „Pilotprojekt Rothenburgsort“ ist man eher irritiert über das plötzliche Interesse an dem Elb-Idyll, das seit Jahren sträflich vernachlässigt wurde

Der einsame Fahrgast im letzten Bus der Linie 120 trug feinen Zwirn und eine lederne Aktenmappe unter dem Arm. Ein Geschäftsmann. Der Bus hielt in der Nähe des großen Hotels, das damals vor gut zehn Jahren noch Forum-Hotel hieß (heute ist es das Holiday Inn). „Sie müssen hier raus“, sagte der Busfahrer , „hier ist Ihr Hotel.“ Sein Passagier sah ihn verblüfft an und fragte: „Wieso? Fahren Sie denn nicht mehr weiter zur Zollvereinsstraße?“ Jetzt schaute der Busfahrer verdattert drein: „Was denn – wohnen Sie etwa hier?“

Diese Geschichte, sagt Marion Hartung, Erste Vorsitzende des Stadtteilräume Rothenburgsort e.V. am Vierländer Damm, des sozialen und kulturellen Stadtteiltreffs – kurz „Die Rothenburg“ genannt –, erzählten sich die Rothenburgsorter immer wieder gern. Denn sie bringe den Ruf dieses Stadtteils auf den Punkt; das miserable Image, das bis heute in den Köpfen der Hamburger spukt: Messerstecher-Viertel, Amtssprache Türkisch, Hartzer mit Bierdosen an jeder Ecke, verhuschte Renterinnen mit dicken Pinschern an der Leine. Ein sozialer Brennpunkt, in dem lebt, wer dort leben muss, und Anzugträger schon mal gar nicht.

Doch in Wahrheit seien die Rothenburgsorter ganz normale Leute: bürgerlich, strebsam, offen und multikulti natürlich auch. Im Elbpark Entenwerder grillten Türken, Russen und Deutsche schon immer friedlich Picknickdecke an Picknickdecke. Nur die Kaufkraft sei in diesem statistisch betrachtet zweitärmsten Stadtteil nach wie vor zu gering. „Wir sind infrastrukturell zu wenig begünstigt“, sagt Marion Hartung, „wir haben zum Beispiel nur eine Grundschule zu bieten, es gibt keine Fachärzte vor Ort, und was wir uns schon lange wünschen, ist ein Supermarkt mit Vollsortiment als Ergänzung zu Aldi, Lidl und Penny.“ Sie weiß auch, dass die relativ geringe Zahl an Bewohnern zusammen mit der Nähe zur Innenstadt die Chancen schmälert, eine weiterführende Schule oder Fachärzte in Rothenburgsort anzusiedeln. Dabei seien von 1998 bis 2007 bereits sehr viele Gelder in die soziale Stadtteilentwicklung geflossen, die nur leider nicht die gleichen sichtbaren Ergebnisse gebracht hätten wie etwa in Wilhelmsburg. Und die Kaufkraft, die sei leider zu gering.

Das merken auch die Marktbeschicker, die immer mittwochs und sonnabends auf dem vor zwei Jahren umgestalteten Marktplatz an der Lindleystraße ihre Stände aufbauen. Dem neuen Zentrum des Stadtteils, auf das die Rothenburgsorter 14 lange Jahre warten mussten. Doch wen man auch fragt, etwa den Obst- und Gemüsehändler Timmann oder den Geflügelschlachter Böttger: Sie antworten unisono, dass sich das Geschäft nicht richtig lohne. Und dass sie eigentlich bloß aus einer Art sozialromantischen Verpflichtung heraus diesen Markt aufrechterhielten. Die Timmanns stehen schon 43 Jahre hier, Böttcher 23. Doch die meisten Kunden seien heutzutage eben leider nicht an der Qualität der Waren interessiert, sondern orientierten sich ausschließlich am Preis.

Aber das soll ja jetzt alles anders werden. Und viel, viel besser: Gut eine Woche ist es her, seit der Erste Bürgermeister den „Aufschwung Ost“ verbal in Angriff genommen hat. Olaf Scholz will die „bisher vernachlässigten Stadtteile Hamm, Horn und Rothenburgsort verstärkt entwickeln“, wobei Rothenburgsort gemeinsam mit dem angrenzenden Hamm eine Art Pilotprojektrolle spielen soll. Das Motto hierfür laute: „Aufwerten, ohne zu verdrängen“. Es seien großartige Quartiere, die einmal zu den zentralen (und den am dichtesten besiedelten) Hamburger Stadtteilen gehört haben, die aber während des Krieges große Zerstörungen erlebt hätten, sagte Scholz. „Wenn man sich diese Region anschaut, dann sieht man: Dort sind viele Dinge möglich.“

Ein „Bündnis der Quartiere“ soll die nachhaltige Entwicklung des Stadtteils richten. Dieses Bündnis muss jedoch erst einmal vom städtischen Wohnungsunternehmen Saga, Wohnungsbaugenossenschaften, privaten Bauunternehmen und dem Bezirksamt Mitte konzipiert werden. Das konnte man auf dem 25.Immobilientag der Handelskammer während einer Podiumsdiskussion erfahren. Im Verlauf der nächsten Dekade soll dann aber auf jeden Fall Wohnraum entstehen, auf keinen Fall jedoch eine Großraumsiedlung vom Reißbrett. Man munkelt dennoch bereits von 2000 bis 3000 Einheiten, öffentlich gefördert und frei finanziert, für den angestrebten „gesunden Bevölkerungsmix“; zusätzlich soll quartiersgerechtes Gewerbe angesiedelt werden. Mit Sicherheit wird das eine Menge Beton. „Die Forderung nach neuen Wohnungen, was auch ein Plus an finanz- und beschwerdestarken Bürgern bedeuten kann, ist nachvollziehbar“, sagt Marion Hartung, „doch die Probleme eines Stadtteils lassen sich nicht nur durch Neubauten lösen. Hier in Rothenburgsort geht es erst einmal darum, eine kritische Masse von knapp 9000 Bewohnern zu erhalten.“

Ingo Böttcher hat als Vertreter der Rothenburgsorter Stadtteilgruppe „Hamburgs Wilder Osten" (HWO) gemeinsam mit Vertretern der „Anwohnerinitiative Elbdeich Rothenburgsort" der Podiumsdiskussion in der Handelskammer beigewohnt, hat dort vernommen, dass die designierten Bündnispartner sich untereinander darüber einig waren, „den Dialog mit den Bestandsmenschen zu suchen“, „die Bürger mitzunehmen“ und „ihnen Wertschätzung entgegenzubringen“.

Der Journalist und seit 20 Jahren bekennende Rothenburgsorter Böttcher – Dreitagebart, Zopf, überzeugter Fahrradfahrer, Selbstdreher – nimmt einen Schluck Cappuccino vorm „Chaplin“ am neuen Marktplatz. Es wird seit 23 Jahren von der türkischstämmigen Familie Ercan betrieben und gilt offenbar als das einzige kulinarische Highlight im Quartier (das behaupten jedenfalls alle Rothenburgsorter). Böttcher steckt sich eine Zigarette an und lächelt süffisant: „Da fühlt man sich doch wie ein US-Marine vor dem Kampfeinsatz: ‚Last to know, first to go.‘“ Das haben er und seine Mitstreiter sechs Tage nach der Veranstaltung auch in einem offenen Brief an die Teilnehmer der Podiumsdiskussion formuliert: „Wir fragen uns, wie es angehen kann, 1. dass Rothenburgsort Pilotprojekt für weitere Quartiere sein soll und wir davon überhaupt nichts mitbekommen haben; 2. dass der Projektstart noch in diesem Jahr erfolgen soll und es noch kein einziges Gespräch mit Anwohnern und Akteuren vor Ort bzw. ihren Vertretungen gegeben hat; 3. dass zum Beispiel die Saga als Unternehmen mit großem Immobilienbestand in Rothenburgsort trotz mehrfacher Einladung durch den Stadtteilrat seit Jahren nicht auf den Sitzungen des Stadtteilrats erschienen ist.“

Das klingt nach einem holperigem Start des sicherlich gut gemeinten Aktionsplans aus dem Amtszimmer des Ersten Bürgermeisters. Aber „Pilotprojekt“: Das fände Böttcher schon prima, doch nur wenn es sich dabei um Stadtteilentwicklung von innen heraus handelte, eher sogar von unten, „damit man die Interessen der Bewohner kennenlernt, bevor man plant“. Worte seien häufig schnell gesprochen, und vor dem großen Wurf sollte man in Rothenburgsort erst einmal doppelt so viele Mülleimer aufstellen wie bisher. Man könnte auch den Wasserturm auf dem Gelände der Wasserwerke, Wahrzeichen des Stadtteils, zum Aussichtsturm umfunktionieren. Das wäre ein guter Anfang, meint Böttcher, um nicht nur das Image, sondern vor allem die Infrastruktur zu verbessern, damit es sich für Investoren überhaupt lohne, für Rothenburgsort Geld in die Hand zu nehmen.

Die dürften bereits mit den Füßen scharren, „denn die östlichen Hamburger Stadtteile sind deutlich unterbewertet“, sagt Lars Seidel, einer der Geschäftsführer von Grossmann & Berger, einem der führenden norddeutschen Immobiliendienstleister. Gerade Rothenburgsort biete viel Potenzial: „Der Stadtteil ist gekennzeichnet durch Industrie und Gewerbebetriebe, einige Wohnquartiere, viele Grün- und insbesondere viele Brachflächen, den direkten Elbbezug und eine verkehrsgünstige Lage, von der Speditionen und Logistiker profitieren.“ Seidel kennt das Dilemma der Bauträger, die in den etablierten Stadtteilen kaum noch entwicklungsfähige Grundstücke fänden. Zurzeit begännen die Preise für Neubau-Eigentumswohnungen in Hamm, Billstedt und Rothenburgsort bei 2900 €/m² Wohnfläche in einfachen Lagen, im Durchschnitt lägen sie bei rund 3200 bis 3300 €/m² Wohnfläche.

In sehr guten Lagen mit Wasserbezug und viel Grün könnten sie aber auch schon mal 3700 und 3800 €/m² Wohnfläche erreichen und kämen damit dem normalen Hamburger Preisniveau näher. Das Mietniveau in den für Rothenburgsort typischen Rotklinker-Geschosswohnungen der 1950er-, 1960er-Jahre liege im Schnitt bei sechs bis acht Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Neubauten in guten Lagen könnten aber auch durchaus auch zwölf Euro erzielen. „Je nach Lage und Ausstattung der Wohnungen werden Vermieter dann sicher auch hier die erlaubten Mieterhöhungen ausschöpfen.“ Worte, die (nicht nur) in Rothenburgsort Beklemmungen auslösen dürften, inzwischen auch „ein Auffangbecken für Verdrängte“, sagt Böttcher, wobei auch die Saga regelmäßig die Mieten erhöhen würde.

Dabei darf man nicht übersehen, dass diese städtische Wohnungsbaugesellschaft 1999 bis 2004 ein Modernisierungsprogramm für ihre rund 900 Wohnungen in Rothenburgsort aufgelegt hatte. Insgesamt wurden 40 Millionen Euro investiert. „Wir haben dort sehr viele langjährige Mieter“, sagt Saga-Sprecherin Kerstin Matzen, „und wir haben eine gute Nachfrage; auch von sogenannten ‚Rückkehrern‘, also Rothenburgsortern, die zwischendurch in anderen Stadtteilen gelebt haben.“

Gerade bezüglich der Gefahr steigender Mietkosten fehlt Böttcher aufgrund der bisherigen Aussagen der Politiker „die Butter am Fisch“. Olaf Scholz habe wohl lediglich schon mal den Wahlkampf lostreten wollen. „Wir leben ja hier wie in einem Dorf auf einer Insel“, sagt Böttcher, der in seinem Bötchen mit dem 15-PS-Außenborder sein Quartier auf den Kanälen umrunden kann. Damit spielt er auf das Engagement, die Fähigkeiten an, die ein stolzes Inselvolk im Laufe der Zeit entwickeln kann. Dem man besser nicht von außen hineinpfuschen sollte. „Man sollte bloß nicht so tun, als ob hier in den vergangenen Jahren nichts passiert sei“, sagt Böttcher und verweist auf Projekte, die von den Bewohnern „mit politischem Wumms“ durchgesetzt wurden: wie die „Rothenburg“, in der mit einem breit gefächerten Angebot (von der Fahrrad-Selbsthilfe-Werkstatt über Sozialberatung und eine „Café-Lounge“ bis hin zur Saalvermietung) seit Jahren erfolgreiche Stadtteilarbeit betrieben werde. Oder wie die „Oberhafen-Connection“, der neue Radweg, der direkt in die Hamburger Innenstadt führt.

Die Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, Carola Veit (SPD), die in dieser sozialdemokratischen Hochburg (55,2 Prozent der Stimmen bei der letzten Bürgerschaftswahl) mit ihrem Abgeordnetenbüro präsent ist, bezeichnet den Stadtteil gerne als „Elbvorort“, als „attraktive, aber vergessene Idylle an der Elbe“. Sie begrüßt den Vorstoß des Ersten Bürgermeisters, kennt aber auch ihre Leute und deren Befindlichkeiten in diesem statistisch betrachtet zweitärmsten Stadtteil. Carola Veit weiß daher ganz genau, dass die Stadtteilentwicklung hier eher kleckernd statt klotzend vorangehen muss.

„Wir sind schließlich nicht auf St. Pauli“, sagt sie, mahnt eine „vorsichtige, verantwortungsbewusste und geduldige Vorgehensweise unter Einbeziehung der Stadtteilkonferenz über einen längeren Zeitraum an“. Sie lobt einerseits die Saga und die Wohnungsbaugenossenschaften als „wichtige soziale Stützpfeiler, die für moderate Mieten stehen“, und andererseits das „tolle Engagement der aktiven Bürgerinnen und Bürger für ihren Stadtteil“. Es hört sich so ein bisschen danach an, dass Carola Veit schon mal damit rechnet, zukünftig als Mediatorin zu fungieren, um einen „offenen Diskussionsprozess“ anzustupsen und aufrechtzuerhalten. „Ohne den hier garantiert nichts funktionieren wird.“ Sagt wiederum Ingo Böttcher.

Wenn Rolf Kellner, der ein Büro für Wohnungsbau, Stadt- und Quartiersentwicklung betreibt, sich einen Überblick verschaffen will, steigt er aufs Dach des grauen Bürohauses mit dem großen Mercedesstern, das zwischen den acht Fahrspuren direkt vor den Elbbrücken steht. Kellners Credo lautet, die östlich gelegenen Wohninseln der Stadt zu verbinden. Danach sollten Hamm und Rothenburgsort über die Billerhuder Inseln, den alten Rothenburgsorter S-Bahnhof und auch die Wasserlage zusammenwachsen. „Aber dafür brauchen wir nicht nur neue Wohnungen, sondern vor allem Arbeitsstätten und neue Formen von Arbeit“, sagt er.

Das Rückgrat neuer Quartiere sollte aus historischen, weiterhin lesbaren Spuren der Entwicklungsgeschichte sein. „Wichtig dabei waren und sind die Kleinteiligkeit und der Erhalt der historischen Substanz – also genau das Gegenteil von dem, was für die neue HafenCity entschieden wurde.“ Auch Kellner schielt nach Wilhelmsburg hinüber, wo gute Ansätze aufgezeigt worden seien, wie die Georg-Wilhelm-Höfe, die Baugruppenprojekte für junge Familien sowie neue Formen von Gemeinschaft. „Das sind lebendige Bausteine für Quartiere. Sie setzen sich Themen und wirken in den Stadtteil hinein, gründen Kitas und beizeiten sogar Schulen. Von ihnen das geht neues Arbeiten aus.“

2000 bis 3000 Wohnungen? Den Rothenburgsortern ist anscheinend klar, dass zuallererst die Infrastruktur ihres Stadtteils in Ordnung gebracht werden muss, bevor man die Bevölkerungszahl so deutlich erhöhen kann, wie es die Politik offensichtlich anstrebt. Man könnte aber auch die berühmte Frage stellen, was zuerst kommen muss: die Henne oder das Ei?