Angesichts der Eskalation in der Ukraine wirkt die Krisendiplomatie erschreckend hilflos

Ausgerechnet im Jubiläumsjahr der europäischen Urkatastrophe von 1914 entwickelt sich ein Konflikt in Osteuropa, der das Potenzial zu einem gefährlichen Flächenbrand besitzt. Einige Elemente dieser Krise – wie blanke Machtpolitik und verantwortungslose Risikomentalität auf russischer Seite sowie militärischer Automatismus bei politischer Hilflosigkeit und loderndem Nationalismus auf ukrainischer Seite – erinnern fatal an den Juli 1914.

Allerdings darf sich der Westen, vor allem Washington, nicht selbstgerecht in die Brust werfen. Der antiwestliche Furor des Autokraten Wladimir Putin speist sich auch daraus, dass der Westen einst im Zuge der Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung zusagte, die Nato keinesfalls bis vor die russische Haustür auszuweiten. Um dann, angesichts der damaligen russischen Schwäche, dieses Versprechen zu brechen, die ehemals sowjetischen Baltenstaaten in die westliche Allianz aufzunehmen und mit der Ukraine darüber zu reden. Es war eiskalte Machtpolitik – und Putin zahlt nun mit gleicher Münze heim.

Der Zar im Kreml nutzt die strategische Überdehnung und militärische Ermüdung der USA sowie die Machtlosigkeit der EU aus, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Die russisch besetzte Krim dürfte für die Ukraine verloren sein. Ein russisches Protektorat könnte entstehen – und damit ein lange schwelender Krisenherd. Es kann allerdings nicht im Interesse Putins sein, einen Krieg mit der Ukraine zu führen, der auch in seinem labilen Riesenreich zu schwer einzuschätzenden Verwerfungen führen kann. Allerdings gibt es den vehementen ukrainischen Nationalismus, der nun mit allen politischen Kräften gezügelt werden muss, um die Dinge nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.

Die Krim ist vor allem wegen der russischen Flottenbasis, dem Meereszugang und der daraus resultierenden regionalen Machtprojektion für Moskau unverzichtbar. Putin wollte nicht riskieren, dass eine nationalistische ukrainische Regierung womöglich den Stationierungsvertrag aufkündigen und Russland damit schweren strategischen Schaden zufügen könnte.

Hinzu kommt, dass die Ukraine einst die Keimzelle der mittelalterlichen russischen Reiche war. Dass Kreml-Chef Nikita Chruschtschow 1954 die Krim an die Ukraine abgab, war damals unproblematisch, da sowieso alles zur Sowjetunion gehörte. Aus heutiger – vor allem russischer – Sicht war es ein historischer Fehler.

Die Schwächephase der USA macht sich nun deutlich bemerkbar. Während Präsident Barack Obamas Telefonat mit Putin offenbar völlig wirkungslos blieb, melden sich einflussreiche Politiker wie der US-Senator und Ex-Präsidentschaftskandidat John McCain mit der geradezu hirnrissigen Forderung zu Wort, die Ukraine und den Brandherd Georgien nun in die Nato aufzunehmen. Intelligente Krisendiplomatie sieht anders aus.

Die Mobilisierung der ukrainischen Reservisten und die Forderung von Boxchampion Vitali Klitschko nach einer Generalmobilmachung sind gefährliche und törichte Signale. Die Ukraine kann in einem Krieg mit Russland nur verlieren.

Die entscheidende Frage ist, ob Putin sich auch noch anschickt, die prorussische Ostukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Dies wäre ein sehr gefährlicher Wendepunkt dieser Krise, die derzeit noch mit Diplomatie entschärft werden kann. Der Westen kann sich jedoch von der Vorstellung verabschieden, mit Russland ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem, basierend auf Vertrauen, aufzubauen. Dennoch kann diese Krise nur mit und nicht gegen Moskau entschärft werden. Für Deutschland sollte dies aber ein Weckruf sein, seine hohe energiepolitische Abhängigkeit von Russland zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Der Verfasser ist Chefautor des Hamburger Abendblatts