Wie Jugendliche bei der Caritas Hamburg anderen Jugendlichen in schweren Situationen beistehen – mit digitalen Kommunikationsmitteln.

Wilhelmsburg. Lara, 24, sitzt in ihrem Zimmer und beantwortet eine Mail. Jeder Satz, den sie schreibt, will gut überlegt sein. Denn die Adressatin ist suizidgefährdet. Lara wird der 19-Jährigen, die in Süddeutschland lebt, Fragen zu ihrer Lebenssituation stellen und ihr Mut machen – irgendwie. „Das Mädchen hat schon mehrere Suizidversuche unternommen. Ihre familiäre und psychische Lage ist ausgesprochen schwierig“, sagt Lara.

Lara ist im vierten Semester Studentin für Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften und möchte in der Zeitung ihren Nachnamen nicht gern veröffentlicht sehen. Sie arbeitet ehrenamtlich in einem sensiblen Bereich: Sie berät junge Menschen, die in einer schweren Lebenskrise stecken und akut suizidgefährdet sind. Seit einigen Monaten engagiert sich die Studentin in einem neuen, bundesweit einmaligen Onlineprojekt. Im Auftrag der Caritas helfen kompetent geschulte Jugendliche anderen Jugendlichen, die dringend psychologischer und sozialer Hilfe bedürfen. Was man wissenschaftlich „Peergroup-Beratung“ (Beratung unter Gleichaltrigen bzw. Gleichgestellten) nennt. Der Kontakt zu den Klienten erfolgt per E-Mail über die Caritas-Website www.u25-hamburg.de – kostenlos und anonym. Gerade die modernen digitalen Medien können erheblich dazu beitragen, dass gefährdete Jugendliche überhaupt einmal erste Hilfe annehmen. Bei den traditionellen Angeboten wie Konsultationen bei Psychiatern und Psychotherapeuten ist die Hemmschwelle noch immer stark ausgeprägt.

Gegenwärtig läuft in Hamburg und drei weiteren Städten bis Ende des Jahres das Cariats-Pilotprojekt „U25“, das vor allem von der Glücksspirale finanziert wird. Ausgebildet und begleitet werden die jugendlichen Krisenberater, die wie ihre Klienten zwischen 15 und 25 Jahren alt sind, von erfahrenen hauptamtlichen Sozialpädagogen.

Zu den Hamburger Ausbilderinnen gehört Diplom-Pädagogin und Sozialmanagerin Nina von Ohlen, die bislang elf junge Krisenberater mehrere Monate lang geschult hat. „Derzeit betreue ich einen zweiten Ausbildungsgang mit elf Teilnehmern“, sagt Ohlen. Bei den Schulungen in Wilhelmsburg, Neuwiedenthal und St.Georg lernen die jungen Leute unter anderem die verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbilder kennen. Außerdem trainieren sie, wie verschlüsselte psychische Botschaften in den E-Mails erkannt und gedeutet werden. Und nicht zuletzt üben die Krisenberater das Schreiben einer Klienten-Mail. Die Berater selbst müssen sich in einem stabilen psychischen Zustand befinden, um mitarbeiten zu können. Allerdings kann es auch von Vorteil sein, persönliche Krisen erlebt und bewältigt zu haben. Wie Nina von Ohlen sagt, ist es das wichtigste Ziel dieser Arbeit, jungen Menschen wieder Mut zum Leben zu machen und ihre suizidale Gefährdung zu entschärfen. „Wir wollen über das moderne Medium der E-Mail eine Beziehung zu ihnen aufbauen und Türöffner sein – zum Beispiel dafür, dass sie therapeutische Hilfe annehmen“, betont sie und fügt hinzu: „Professionelle Hilfe, wie sie Psychiater und Psychologen leisten, können und wollen wir nicht bieten.“

In Deutschland sterben jährlich rund 10.000 Menschen durch Selbsttötung. Wie aus dem Nationalen Suizid-Präventionsprogramm hervorgeht, ist die Suizid-Häufigkeit in den jüngeren Altersgruppen am häufigsten ausgeprägt. Allein in Hamburg nahmen sich im Jahr 2012 vier Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren das Leben (siehe nebenstehenden Beitrag). In der Altersklasse der 20- bis 25-Jährigen waren es sechs Männer und eine Frau, die sich im genannten Zeitraum selbst töteten.

Nach dem Unfalltod ist der Suizid die zweithäufigste Todesursache im Alter bis zu 20 Jahren. In Hamburg starben im Zeitraum von 2006 bis 2009 durch Selbstmord ein Kind im Alter zwischen zehn und 15 Jahren, 15 Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren und 25 Jugendliche im Alter von 20 bis 25 Jahren. Im Vergleich zu früheren Jahren sei allerdings ein Rückgang der Suizidzahl in der Altersklasse der 20- bis 25-Jährigen festzustellen, so die Eimsbütteler Dokumentation „Suizidalität im Kindes- und Jugendalter“.

Wie es in der Studie weiter heißt, wird der Suizid bei Jugendlichen häufig als „demonstrativer Akt“ eingesetzt – in dem Sinne: „Das habt ihr jetzt davon.“ Tatsächlich musste Krisenberaterin Laura schon viele solcher Sätze lesen wie: „Die Welt wäre besser ohne mich.“ Oder: „Ich habe niemanden. Ich bin nichts wert.“ Dann fragt Lara die Klienten, was ihnen denn guttun und ein bisschen Freude bereiten würde. Dass sie doch stolz auf sich sein könnten – trotz allem. Jede Mail, die Lara und die anderen Caritas-Krisenberater verschicken, wird intern noch einmal besprochen. Außerdem trifft sich die Gruppe regelmäßig zu Supervisionsgesprächen.

Seit dem Start des Onlineprojekts im September 2013 haben die Hamburger Caritas-Krisenberater bundesweit insgesamt 60 Klienten betreut und 467 Mails geschrieben. „Die Nachfrage ist inzwischen so groß, dass es zu Wartezeiten kommen kann“, sagt von Ohlen. Aber das grundsätzliche Versprechen bleibt: Innerhalb von 48 Stunden werden Mails mit akuten Problemen beantwortet.

Projektleiterin Nina von Ohlen hofft nun auf weitere Ausbildungsgänge mit neuen Beratern. Und auf finanzielle Unterstützung von Sponsoren und Stiftungen. Studentin Lara jedenfalls wird sich weiter in der Freizeit um ihre Klienten kümmern. „Ich finde es wichtig, solche ehrenamtliche Arbeit zu leisten. Das bringt mich in meinem Studium weiter“, sagt sie. „Und ich finde es immer wieder bewundernswert, dass diese Menschen Kraft haben, uns zu schreiben.“