Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf zum Teil schon höher als 50 Prozent. Bildungsbehörde zweifelt Diagnosen an.

Hamburg. Barbara Riekmann ist eine abwägende und sehr erfahrene Pädagogin. 25 Jahre lang hat sie die Max-Brauer-Schule in Bahrenfeld geleitet – eine der Vorzeigereformschulen in Hamburg, die mit zahlreichen Schulpreisen ausgezeichnet wurde. Riekmann engagiert sich auch nach ihrer Pensionierung vor zwei Jahren für ihren Beruf. „Im laufenden Schuljahr können die Stadtteilschulen den Zuwachs an inklusiv beschulten Kindern vielleicht noch verkraften, aber wenn diese Zahlen durch die Jahrgänge hochwachsen, geht das nicht mehr“, sagt die frühere Schulleiterin.

Die Zahlen, von denen Riekmann spricht, sind die Daten der aktuellen Anmelderunde für die fünften Klassen der Stadtteilschulen, zu denen auch die Max-Brauer-Schule zählt. Danach haben von den künftigen Fünftklässlern an dieser Schulform laut einer internen Erhebung der Schulleiter nach jetzigem Stand 887 Kinder Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung (LSE). Das entspricht einer Quote von 15,8 Prozent. Vor einem Jahr lag der Anteil noch bei 10,8 Prozent.

Die zusätzlichen Förderstunden für die LSE-Kinder, in denen Sonder- und Sozialpädagogen eingesetzt werden, vergibt die Schulbehörde nach einem zentralen Schlüssel, abhängig vom Sozialindex der Schule, aber unabhängig von der jeweils konkreten Zahl der LSE-Kinder in einer Klasse. Diese sogenannte systemische Ressource basiert auf einem durchschnittlichen Anteil von LSE-Kindern von lediglich acht Prozent an den Stadtteilschulen – also etwa der Hälfte des Werts der jetzt neu angemeldeten Jungen und Mädchen.

Riekmann weist auf die enorme Spreizung der Werte zwischen den einzelnen Standorten hin. An den acht Stadtteilschulen mit dem Sozialindex 1 – mit der sozial am stärksten belasteten Schülerschaft – schwankt die Quote zwischen 15,9 und einem Spitzenwert von 58,3 Prozent. Der Durchschnittswert liegt hier bei 27 Prozent gegenüber 17 Prozent bei den 18 Schulen mit dem Sozialindex 2. Auch hier ist der LSE-Kinder-Anteil wiederum sehr unterschiedlich und reicht von 4,8 bis 30,4 Prozent. Mit steigendem Sozialindex, also wachsender sozialer Stabilität des Einzugsgebiets, nimmt die LSE-Quote ab. Doch selbst in den sozial stabilen, sieben Stadtteilschulen mit dem Sozialindex 5 variiert der Anteil förderbedürftiger Kinder von 5,5 bis 15,5 Prozent.

„Mehr als 50 der 59 Stadtteilschulen werden voraussichtlich zum kommenden Schuljahr nicht fachgerecht versorgt sein, wenn die Behörde nicht deutlich nachsteuert“, sagt Riekmann, die Sprecherin der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) ist, der heute die Unterstützer der Stadtteilschulen angehören. Der Verband bekennt sich „vorbehaltlos“ zur Inklusion. „Die hierfür nötigen Ressourcen allerdings müssen aufgabengerecht zur Verfügung gestellt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung der GGG. Angesichts der erheblichen Spreizung des LSE-Kinder-Anteils an Schulen mit ähnlichen sozialen Verhältnissen erweise sich zudem „der Sozialindex als nicht sicheres Prognoseinstrument für die Zahl der tatsächlich in den Schulen ankommenden Schüler“.

Dass es noch in diesem Schuljahr zu erheblichen Engpässen kommt, belegt die Senatsantwort auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Stefanie von Berg. So hat die Stadtteilschule Am Hafen (Sozialindex 1) einen LSE-Kinder-Anteil von 28,9 Prozent in den fünften, von 18,3 Prozent in den sechsten Klassen und 15,6 Prozent in den siebten Klassen. Die Förderung laut systemischer Ressource ist aber nur für 14,1 Prozent berechnet. Die Brüder-Grimm-Stadtteilschule in Billstedt „darf“ rechnerisch einen Anteil von 11,3 Prozent förderbedürftiger Kinder haben. Die tatsächlichen Werte liegen in Klasse 5 bei 18,9 Prozent, in Klasse 6 bei 15,2 Prozent und nur in Klasse 7 unterdurchschnittlich bei 9,5 Prozent. „Unsere Zahlen belegen deutlich, dass die Ausstattung der Inklusion in vielen Grundschulen und fast allen Stadtteilschulen völlig unzureichend ist“, sagt von Berg. Die Grünen schlagen einen Inklusionsfonds in Höhe von 15 Millionen Euro vor, um den Mehrbedarf zu finanzieren. Doch Rabe zweifelt die hohe Zahl der LSE-Schüler an. „Die Angaben der Schulstatistik in diesem Bereich sind nicht aussagekräftig“, sagt Schulbehördensprecher Peter Albrecht. So hätten die fünften Klassen der Sonderschulen heute 170 Schüler weniger als 2009, die Stadtteilschulen meldeten aber 740 Sonderschüler mehr. „Da kann etwas nicht stimmen. Diese erhebliche Differenz wird derzeit wissenschaftlich untersucht“, sagt Albrecht. Bei einer Stichprobe habe sich jede dritte Meldung als fehlerhafte Eingabe erwiesen.

Seit dem Start der Inklusion erstellen Sonderschullehrer an den Grundschulen Fördergutachten für die Kinder mit LSE-Defiziten, die dann häufig auf eine Stadtteilschule wechseln. „Vermutlich haben sich die Diagnosemaßstäbe im Zuge der Inklusion verschoben“, sagt Albrecht. Derzeit werde an einheitlichen Kriterien gearbeitet.

Ex-Schulleiterin Riekmann sieht eine gestiegene Sensibilität der Lehrer als Ursache an. „Aber früher war die Hürde auch höher, weil eine LSE-Diagnose sofort zur Abschulung geführt hätte und viele Pädagogen das nicht wollten“, so Riekmann, die aber auch einen gesellschaftlichen Umbruch wahrnimmt, mit dem mehr soziale und emotionale Auffälligkeiten einhergehen.