Wie sich eine NS-Ärztin an der Euthanasie beteiligte. 15 Jahre nach dem Ende der Ermittlungen heiratete sie einen ihrer Untersuchungsrichter.

Hamburg. Mit zitternder Stimme berichtet eine ehemalige Schwesternschülerin, wie sie zur Handlangerin der Nazi-Ärzte wurde. Sie arbeitete in einer der beiden „Kinderfachabteilungen“ in Hamburg, wo Mediziner geistig und körperlich behinderte Kinder systematisch töteten. „Sechs Mongölchen“, erinnert sich die heute 90-jährige Hamburgerin, musste sie zu den Ärzten tragen – ohne zu wissen, was mit den Kindern gleich passieren würde: Sie erhielten eine Überdosis des Schlafmittels Luminal, an der sie zum Teil qualvoll nach drei Tagen starben.

Mehr als 80 Kinder wurden während der NS-Zeit im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort sowie in Langenhorn ermordet. Die meisten von ihnen waren jünger als drei Jahre. Am Anfang der sogenannten Kinder-Euthanasie, der insgesamt rund 10.000 Mädchen und Jungen im Alter von bis zu 16 Jahren zum Opfer fielen, stand der Runderlass vom 18. August 1939 über die Meldepflicht von geistig und körperlichen behinderten Menschen. Und am Ende die grausame, massenhafte Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens.

In den Fokus der historischen Erforschung dieses dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte rückt jetzt die Rahlstedter Ärztin Ingeborg Wetzel (1912–1989), eine der Handlangerinnen der NS-Ideologie im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Zur Verantwortung gezogen wurde sie nie. Die Kinderärztin kam – wie viele ihrer braunen Kollegen – nach dem Krieg ohne Verurteilung davon. Sie konnte sogar ihre ärztliche Tätigkeit fortsetzen, von 1950 bis 1964 mit eigener Praxis an der Rahlstedter Amtsstraße 2. Das Haus ist noch heute erhalten.

Mit der Verstrickung von Dr. med. Wetzel in die Kinder-Euthanasie befasst sich der Celler Publizist Andreas Babel. Mindestens sechs Morde, sagt er, seien der damaligen Assistenzärztin nachzuweisen. Andere Experten gehen davon aus, dass Wetzel für die Ermordung von mindestens 50 behinderten Kindern mitverantwortlich war. Häufig führten die Ärzte vor dem Tod medizinische Experimente durch. Erst vor zwei Jahren wurden auf dem Ohlsdorfer Friedhof die Präparate von fünf Kindern beigesetzt, die im Fundus des Medizinhistorischen Museums gelagert worden waren. Es waren mikroskopische Proben von Gehirnen für die neuropathologische Forschung. Auf die Verbrechen dieser Ärztin stieß der Celler Forscher, als er sich näher mit der Biografie von Hitlers Adjutanten beschäftigte. Dabei tauchte der Name einer Medizinerin auf – Ingeborg Wetzel. Zu einer Anklage gegen sie war es jedoch nie gekommen. „Die Staatsanwaltschaft“, sagt Babel, „hat zwar eine Anklageschrift aufgesetzt. Das Verfahren wurde aber nicht eröffnet.“

Besonders pikant: 15 Jahre nach dem Ende der Ermittlungen heiratete sie einen ihrer Untersuchungsrichter. Mit Walter Tyrolf, der als „Blutrichter“ am Hamburger Sondergericht viele Menschen zum Tode verurteilt hatte, war sie bis zu dessen Tod im Jahr 1971 verheiratet.

Dass Wetzel niemals juristisch belangt wurde, ist kein Einzelfall. Wie Marc Burlon, Hamburger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in seiner Dissertation über die Kinder-Euthanasie in Hamburg betont, ist die juristische Aufarbeitung dieser Massenmorde in Hamburg „gescheitert“. Keiner der Angeklagten sei je verurteilt worden. Stattdessen, so schreibt er, ist der „damalige Untersuchungsrichter mit der angeklagten Assistenzärztin eine Ehe eingegangen“. Nach Burlons Recherchen war sogar das Pflegepersonal an den Tötungen beteiligt. Im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort seien die Kleinen von den Schwestern in den Armen gehalten worden, während ihnen Ärztinnen die Todesspritzen gaben. Der Celler Publizist Babel findet dieses Vorgehen in den Gesprächen mit Zeitzeugen bestätigt. Er hat jetzt eine Liste mit den Namen von rund 270 Kinderkrankenschwestern kopiert, die damals im Krankenhaus arbeiteten. Dazu zählt auch die inzwischen 90-jährige ehemalige Schwesternschülerin, die Babel jetzt interviewt hat.

Um mehr Licht in die Geschichte des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort zu bringen, sichtete Babel darüber hinaus Ermittlungsakten, Personalbögen sowie Abitur- und Studienunterlagen. Wie im Fall von Ingeborg Wetzel, die in Greifswald Medizin studiert hat. Das zeitgeschichtliche Material ist inzwischen so gut recherchiert, dass der Hobby-Historiker noch in diesem Jahr in der Bremer Edition Falkenberg ein Buch mit dem Titel „Kindermord im Krankenhaus“ veröffentlichen wird.

In den nächsten Monaten will der Autor mit Jugendlichen, Studenten und Ärzten über das Verbrechen Euthanasie ins Gespräch kommen. „Sinnvoll wäre es auch, wenn in der Nähe des einstigen Kinderkrankenhauses Rothenburgsort ein Erinnerungsort mit Ausstellung entsteht“, sagt er. Am Gebäude an der Marckmannstraße, heute Sitz des Instituts für Hygiene und Umwelt, erinnert inzwischen eine Gedenktafel an das Schicksal der 50 ermordeten Kinder. Der Schlusssatz lautet: „Keiner der Beteiligten wurde dafür gerichtlich belangt.“