Mehr als 20 Anzeigen in Hamburg allein im Januar. Betrüger geben sich als Ärzte aus und sagen, ein Verwandter des Angerufenen sei verletzt und nur durch eine teure OP zu retten.

Hamburg. Als ihr Telefon gegen Mittag klingelt, ahnt Marie-Luise P. noch nicht, welche erschütternde Nachricht sie erwartet. Die 93-Jährige nimmt das Telefon aus der Ladeschale, die Rufnummer kennt sie nicht. „Da war ein Doktor dran, aus Lübeck“, sagt sie später. „Den Namen habe ich vergessen. Ich höre ja nicht mehr so gut.“ Was der vermeintliche Mediziner von ihr verlangt, macht sie auch eine Woche später noch sprachlos.

„Frau P.“, sagt der Anrufer, „ihr Sohn liegt bei uns im Krankenhaus. Er hatte einen Autounfall.“ Und: „Frau P. hören Sie gut zu. Ein Bein werden wir ihm abnehmen müssen, damit er nicht verblutet.“ Zwei Stunden blieben nur, so der angebliche Arzt, dann müsse die Amputation erfolgen. „Ob er jemals wieder laufen kann, ist nicht klar“, so der Mann.

Marie-Luise P., eine Seniorin aus dem Hamburger Westen, das graue Haar sorgsam frisiert, ist geschockt. Ihr Sohn, mittlerweile auch schon 72 Jahre alt, ihre große Stütze im Alltag, schwer verletzt, sein Leben bedroht? Sie würde alles für ihn tun.

Es gebe nur eine einzige Lösung, sagt der vermeintliche Doktor. „Haben sie schon von einer Laser-Operation gehört?“ Frau P. horcht auf. Allerdings sei diese Operationsmethode sehr teuer. „Und die Kosten werden von der Krankenkasse nicht übernommen.“ Auf ihre Frage, was die rettende OP kosten würde, kommt der Doktor schnell zum Punkt: „22.800 Euro“, die sie so schnell wie möglich in bar übergeben müsse.

Mehr als ein Dutzend ähnlicher Anrufe haben die Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) in den ersten Wochen des Jahres bereits gesammelt und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann es ein erstes Opfer gibt.

Marie-Luise P. zog die Reißleine und rief die Polizei. Ihrem Sohn geht es gut. Die Aufregung aber hat die 93-Jährige noch lange nicht verdaut. Schockanrufe wie dieser sind eine neue und überaus effektive Masche einiger vom Ausland aus agierenden Betrügerbanden. Sie manipulieren Senioren so, dass diese keine andere Möglichkeit sehen, als ihr Erspartes an einen Fremden herauszugeben – in der Annahme, Gutes zu tun. Werden bei klassischen Enkeltrick-Betrugstaten in der Regel ökonomische Abhängigkeiten von Angehörigen vorgetäuscht, Schulden oder Kredite, die unmittelbar bedient werden müssten, setzen die Betrüger immer öfter auf Schockmomente wie im Fall von Frau P. Das körperliche Leid naher Verwandter soll die erschütterten Senioren dazu bringen, die angeblich immensen Behandlungskosten zu schultern.

Im August und September habe die Polizei eine erste Welle solcher Schockanrufe in Hamburg registriert, sagt Kriminalhauptkommissarin Frauke Hannes, 46, von der Abteilung Polizeiliche Kriminalprävention im LKA. Wurde es zunächst etwas ruhiger, seien die Fallzahlen seit Anfang dieses Jahres wieder gestiegen. Mehr als 20 Anzeigen gab es bereits im Januar. Zum Glück: „Noch ist uns kein Fall bekannt, bei dem die Täter Erfolg hatten“, sagt Frauke Hannes.

Die Kriminalistin warnt: „Auf diese Betrugstaten kann jeder hereinfallen.“ Die Täter nutzten die Einsamkeit, Zerstreutheit und Schwerhörigkeit ihrer Opfer aus. Diese sollten in jedem Fall die Polizei benachrichtigen, egal, ob sieausgenutzt wurden oder den Betrugsversuch rechtzeitig aufdeckten. „Es gibt keinen Grund, sich zu schämen“, betont die Polizistin und sagt mit Blick auf den aktuellen Fall: „Die Konstellation, dass die Krankenkasse die Behandlungskosten nicht trägt, gibt es gar nicht.“ Wer glaube, Opfer eines solchen Schockanrufs zu sein, könne die Situation klären, indem er etwa in dem angegebenen Krankenhaus nachfrage.

Marie-Luise P. entkam den Fängen des Anrufers, weil sie hartnäckig blieb. „Ich habe auf mein Bauchgefühl gehört.“ Auch wenn sie den Schwindel nicht sofort durchschaut habe, die Zweifel seien im Laufe des Gesprächs größer geworden. Deshalb verlangte sie eine Rückrufnummer und die Nummer des Kontos, auf das sie überweisen sollte. Als der Anrufer daraufhin fragte, ob sie ihn beleidigen wolle, legte sie auf.