1904 entstand für Wilhelm II. am Baumwall ein Sieleinstieg und ein unterirdischer Umkleideraum, den man zumauerte. Jetzt wurde er zufällig entdeckt. Hamburg Wasser investierte 28.000 Euro in die Renovierung.

Neustadt. Hans-Joachim Hoch, 55, hat aufgehört zu zählen, wie viele Touristen er anschwindeln musste. „Die kamen jede Stunde hereingeplatzt“, sagt der Baubezirksmeister von Hamburg Wasser. Erst hörte er oben die Holztür aufgehen, dann Wortfetzen auf Englisch und tapsige Schritte hinab in die Dunkelheit. „Wir haben ihnen dann erzählt, dass wir nur ein bisschen renovieren und sie weggeschickt“, sagt Hoch, sein Schnauzer wippt vergnügt. „Die Zeit war nicht reif, die Leute das Zimmer sehen zu lassen. Noch nicht.“

Unterhalb der Hochwasseranlage am Baumwall haben Hans-Joachim Hoch und seine Kollegen ein verschollenes Stück kaiserlicher Geschichte freigelegt. Seit 1904 dient das sandfarbene Einstiegshäuschen an der Straße Vorsetzen als bequemer Zugang zur Hamburger Kanalisation – es gilt als gesichert, dass der Einstieg für einen Besuch des „Reisekaisers“ Wilhelm II. in Hamburg erbaut wurde. Ein Raum wurde später aus unbekannten Gründen zugemauert und vergessen. Knapp sechs Quadratmeter, schlauchartig, mit glasierten Fliesen verkleidet. Das geheime Ankleidezimmer des Kaisers. Für eine Bootsfahrt durch die Siele.

„Das Siel ist seit der Erbauung ununterbrochen in Betrieb, der Fund war Zufall“, sagt Ole Braukmann, Referent bei Hamburg Wasser. „Die Stadt kann sich wohl erneut bei William Lindley bedanken.“ Der englische Ingenieur, der im Jahr 1840 die ersten Pläne für ein modernes Sielsystem in Hamburg entwarf, ist neben dem Sielhäuschen in einer Statue verewigt. Im Herbst 2012 wollte Hamburg Wasser das Lindley-Denkmal auf die südliche Seite des Einstiegs versetzen – und stieß bei der Aushebung der Fundamentgrube auf einen unbekanntes Gewölbe in drei Metern Tiefe. „Ich bin wie ein Abenteurer mit der Leiter in das Gewölbe hinabgestiegen. Das Schlammwasser stand knöcheltief in dem Ankleidezimmer, aber meine Augen leuchteten“, sagt Hans-Joachim Hoch. Der Baubezirksmeister vergrub sich im Hamburgischen Staatsarchiv, fand nach Tagen einen Bauplan aus dem Jahr 1903. Darin ist das Gewölbe als „Ankleidezimmer“ vermerkt.

Das Kuhmühlen-Stammsiel wurde gebaut, um die damals schnell wachsenden „Vorstädte“ Eppendorf und die Uhlenhorst an das bestehende Sielnetz anzuschließen. Gleichzeitig vollendete es den vorläufigen Ausbau der Hamburger Kanalisation nach der Idee Lindleys. Der Ruf der hochmodernen Sielanlagen in Hamburg hatte Wilhelm II. zu dieser Zeit längst erreicht, den Kaiser trieb ein fast wahnhafter Fortschrittsglaube. Und offenbar wünschte sich WilhelmII. für seinen geplanten Besuch in Hamburg ein Zimmer, um sich vor der feierlichen Eröffnungsfahrt durch das Stammsiel einen weißen Schutzkittel überzustreifen, wie ihn sonst Viehhändler trugen. Ob die Bootsfahrt mit dem Kaiser im September 1904 wirklich stattfand, ist nicht belegt. Die Hamburger Zeitungen berichteten ausführlich über den dreitägigen Besuch des Kaisers, seine Aufsicht auf das große Herbstmanöver der Marine im Hafen, einen Besuch im Schauspielhaus mit Gattin Viktoria. Eine Sielbesichtigung fand in den bekannten Aufzeichnungen jener Tage keinen Niederschlag.

„Die plausibelste Theorie ist, dass die Bootsfahrt aus terminlichen Gründen zunächst abgesagt wurde“, sagt Ole Braukmann. Am 8. Dezember 1904 wurde das Stammsiel offiziell eröffnet. Möglicherweise holte der technikbegeisterte Kaiser die Bootsfahrt später nach. Wilhelm II. bereiste Hamburg bis zum Ersten Weltkrieg noch mehrere Male, etwa zum Durchschlag der ersten Elbtunnel-Röhre im Jahr 1910.

Journalisten schrieben in den Jahren nach der Fertigstellung des Siels ebenfalls von Bootsfahrten durch die Kanalisation, möglicherweise wurde das Ankleidezimmer auch für nichtadelige Hamburger freigegeben. „Leider gibt es keine Aufzeichnungen, wie das Zimmer damals genau eingerichtet war“, sagt Hans-Joachim Hoch. Warum die Tür vermauert wurde, ist ebenfalls ungeklärt. „An der Ostseite war Rotklinker verputzt worden, als wir den Raum fanden. Wahrscheinlich sollte so die Wand des benachbarten Bootsraumes verstärkt werden.“

In den vergangenen Monaten gaben Hoch und sechs Handwerker dem Ankleidezimmer seinen frühjahrhundertlichen Charme zurück. „Die Zeit hatte dem Raum sehr zugesetzt“, sagt Hans-Joachim Hoch. Die Süd- und Ostwand des Zimmers wurde gesäubert, die Rotklinkerwand neu verkachelt. Vorn setzten die Handwerker eine geschwungene Eichentür ein. Eine Sitzbank und eine antik anmutende Lampe sollen für kaiserliche Bequemlichkeit sorgen, Hamburg Wasser investierte 28.000 Euro in die Renovierung des Sieleinstiegs.

Abendblatt-Leser haben die Möglichkeit, das Kaiserzimmer exklusiv zu besichtigen. Darüber hinaus will Hamburg Wasser das Kaiserzimmer der Öffentlichkeit zur „Nacht der Museen“ und zu besonderen Jahrestagen zugänglich machen. Dann erzähle er den Touristen gern die ganze Wahrheit, sagt Hans-Joachim Hoch. „Nur auf die kaiserliche Bootsfahrt müssen sie verzichten. Das wäre dann doch ein wenig zu gefährlich.“