HSV-Torwart René Adler ist in Deutschland einer der Besten. Jenseits des Sports will er privat bleiben, sammelt Kunst und besucht Ausstellungen. Ein Porträt über einen Mann, der das Motto „Fußball ist nicht alles“ wirklich lebt.

Wäre René Adler abergläubisch, würde er in der Woche vor einem Spiel gegen die Bayern (Anpfiff ist um 15.30 Uhr im Liveticker auf abendblatt.de) seine Mittagspause zwischen den Trainingseinheiten nicht im Rach & Ritchy verbringen. Denn in der vergangenen Saison gab es danach jeweils Niederlagen; zunächst das 0:3 zu Hause und dann in der Rückrunde die jetzt schon legendäre 2:9-Klatsche in München. Aber René Adler ist nicht abergläubisch. Er rollt pünktlich in einem Kleinwagen auf den Parkplatz des Restaurants, das nur wenige Kilometer vom Stadion entfernt ist. „Das Auto gehört meiner Freundin“, sagt der 28-Jährige, als er seine 1,91 Meter aus dem Auto herauswindet. Es klingt nach einem souveränem Bekenntnis zum gelebten Understatement, das René Adler zu seinem Markenzeichen entwickelt hat.

„Wieso entwickelt?“ Er schaut fragend. „Nein, ich bin geerdet. Ich bin zwar schon lange in diesem Geschäft, das natürlich eine Riesenshow ist, in der häufig die Nebengeräusche überwiegen und der eigentliche Sport zu kurz kommt. Doch mich andauernd verstellen zu müssen wäre mir zu anstrengend. Aber Fußball ist sowieso nicht alles“, sagt Adler und bestellt sich ein Lachsfilet unter der Pfefferkruste, dazu eine Apfelschorle.

„Fußball ist nicht alles.“ Diesen Satz findet man öfter bei ihm, etwa in seinem Facebook-Eintrag vom 10. November dieses Jahres: „Heute jährt sich zum vierten Mal der Todestag meines Torwartkollegen Robert Enke. Hier möchte ich an einen Satz erinnern, der selbstverständlich gesagt werden muss: ‚Fußball ist nicht alles.‘“ Einen Monat später stellte er eines seiner getragenen Trikots mit Autogramm bei Ebay ins Netz. Mit dem Erlös aus dieser Versteigerung will René Adler ein gemeinnütziges Projekt unterstützen; die Fans sollten Vorschläge machen, welche Organisation das Geld erhalten sollte. Das Trikot brachte am Freitag 476 Euro. Ein Fan schrieb: „Sammelt das Geld selbst und kauft euch mal ein wenig Kampfgeist davon!!!!“ René Adler antwortete prompt: „Pascal Brand, ich verstehe deinen Unmut nach unserem schlechten Augsburg-Spiel (0:1-Heimniederlage am vergangenen Sonnabend), aber Fußball ist nicht alles.“

Und jetzt warten die Bayern, doch Adler hat sich am Sprunggelenk verletzt, sodass er nicht im Tor stehen kann. Er nippt an der Apfelschorle, tippt ein-, zweimal mit seinen erstaunlich feingliedrigen Fingern aufs Display seines Smartphones. „Unsere Fans sind natürlich großartig, obwohl wir sie ja schon länger nicht gerade verwöhnen“, gibt er zu. „Deshalb dürfen sie auch von uns verlangen, dass wir kämpfen. Allerdings geht es nicht immer nur ums Gewinnen und Verlieren, sondern vor allem darum, wie man sich präsentiert.“

Er selbst müsse versuchen, ruhig zu bleiben, wenn es mal nicht so läuft. Müsse auf seine Fähigkeiten vertrauen und das Grundvertrauen zu sich selbst wiederfinden. Dieses Grundvertrauen ist für René Adler so existenziell, dass er es sich durch nichts und niemanden erschüttern lassen will. Vor allem nicht durch Einflüsse von außen. Er ist zwar unbestritten einer der besten Torhüter der Nation, er ist Führungsspieler in einem stolzen, wenn auch gebeutelten Traditionsverein, aber er will kein Kumpeltyp zum Anfassen sein. Er ist kein moderner „Uns Uwe“.

Adler will sich auf seinen Beruf konzentrieren, den er noch acht, vielleicht zehn Jahre ausüben kann. Und den er liebt. Den „Nebengeräuschen“ räumt er daher so wenig Platz wie möglich ein. Wenn schon Show, dann auf dem Platz.

So würde er nie die Fotografen bestellen, wenn er im nächsten Jahr gemeinsam mit seiner Freundin, der 27-jährigen Schauspielerin Lilli Hollunder („Ja, Lilli heißt wirklich Hollunder!“) in sein neues Domizil in Harvestehude umziehen wird. Er würde auch nicht beim Sportreporter seines Vertrauens anrufen, weil er den Haufen des kleinen Hundes Momo auf den Alsterwiesen vorschriftsmäßig beseitigt. Stattdessen schafft er eine Aura der Unnahbarkeit um sich herum, die manche als Arroganz interpretieren dürften, vermutlich sogar einige seiner Mannschaftskameraden. René Adler schmunzelt. Schon als hoffnungsvolles Torwarttalent, damals beim VfB Leipzig, galt er als introvertiert. „Ich habe es noch nie eingesehen, mit Leuten auf Kumpel machen und quatschen zu müssen, nur weil die mir die Hand auf die Schulter gelegt haben“, sagt er.

Sein Begabung war entdeckt worden, als er sechs war. Bereits mit 15 zog er aus seiner Heimatstadt Liebertwolkwitz bei Leipzig ins 500 Kilometer entfernte Leverkusen, unter das Dach von Rüdiger Vollborn, damals die Nummer eins im Tor der Bayer-Elf. Eine schwere, aber auch schöne Zeit. Vormittags büffeln auf dem Gymnasium, nachmittags Hausaufgaben und Training. Adlers Ziele hießen Abitur und Profifußballer. Er, seine Eltern und sein vier Jahre jüngerer Bruder Rico sahen sich nur selten. Vater Jens, selbst Torwart, wurde 1990 beim letzten Spiel der DDR-Nationalmannschaft gegen Belgien drei Minuten vor Schluss eingewechselt und ist damit der letzte Nationalspieler der DDR, ehe sich der Staat auflöste.

Zu René Adlers anti-öffentlichem Schutzwall gehört auch, dass er und Lilli (die er abwechselnd „Freundin“, „Lebensgefährtin“ oder „Frau“ nennt) ihre Liebe hinter verschlossenen Türen und nicht auf roten Teppichen zelebrieren. „Wir sind kein Glamour-Paar. Dabei wäre es vermutlich für ihre Karriere besser, wenn sie sich öfter präsentieren würde“, sagt er, „aber das will Lilli nicht. Wir sind uns beide einig, dass unsere Beziehung über allem steht, sogar über meinem Sport. Und eigentlich sind wir schon genug durchleuchtet.“

So geht das Paar in aller Stille in die Hamburger Kunsthalle, um sich dort zum Beispiel die Ausstellung des dänischen Malers Christoffer Eckersberg anzusehen. Oder die beiden besuchen im Münchner Lenbach-Palais einen Vortrag über die Malergruppe „Der Blaue Reiter“. „Vielleicht wünschen mich ja die Leute mehr als rauen Fußballer“, sagt Adler, „aber das bin ich genau so wenig wie der pseudo-intellektuelle Kicker. Ich versuche doch bloß, im Rahmen meiner Möglichkeiten immer wieder was dazuzulernen.“ Er weiß natürlich, dass er, der „Sammelanfänger“ von zeitgenössischer Kunst, der Kultureinrichtungen von innen kennt und nicht nur in Sportzeitungen und -magazinen blättert, einigen Bewohnern des Fußballplaneten merkwürdig vorkommen muss. Zumindest exotisch. Obwohl immer mehr Profis inzwischen über die Zeit nach ihrer Karriere nachzudenken beginnen. René Adler hat den Plan, ein BWL-Studium aufzunehmen, vielleicht sogar schon im Wintersemester nach der Weltmeisterschaft im nächsten Jahr, an der Uni, nicht als Fernstudium. „Sie fahren also nach Brasilien?“ – „Davon gehe ich aus!“, sagt Adler und lächelt. Selbstbewusst. Bundestrainer Joachim Löw wird es vielleicht gespürt haben.

Zuerst habe ihn wohl sein Bruder Rico, der mal Musiker werden wollte, dazu inspiriert, über den Stadionrand hinauszugucken. Und Lilli, mit der er vor drei Jahren in Leverkusen zusammenkam, stamme aus einer halben Künstlerfamilie. Ihre türkischstämmige Mutter schreibt Drehbücher und ist Schauspielerin, ihr Vater ist Mediziner. Vielleicht ist es auch ein Hinweis darauf, dass René Adler schon immer eine Art stiller Entdecker gewesen ist, bereit, sich auf neue Wege einzulassen.

Mit Rico verbinde ihn eine tiefe Freundschaft. In Köln hatten sie sich, als er längst die Nummer eins in Leverkusen war, eine Wohnung geteilt. Der Fußballprofi unterstützte seinen Bruder damals nach Kräften, denn er wollte, dass Rico die gleichen guten Startchancen bekommen sollte, wie er sie hatte. „Außerdem wollten wir viele Jahre nachholen. Das war nicht leicht für einen Elfjährigen, als der ältere Bruder einfach verschwand“, sagt Adler. Inzwischen ist Rico Unternehmensberater geworden, arbeitet auch für René, der wiederum sagt, dass er seinem Bruder viel zu verdanken habe: „Ich habe die Weisheit bestimmt nicht mit Löffeln gefressen! Rico hat in vielen Lebensbereichen viel mehr Erfahrung als ich. Denn als Profifußballer wird dir ja immer sehr viel abgenommen...“

Doch das Weihnachtsfest wird René Adler in diesem Jahr erstmals nicht mit seiner Familie verbringen. Sondern er wird mit Lilli in die Sonne fliegen, Ziel geheim. „Nach den letzten Monaten mit dem HSV muss ich mal so richtig ausspannen“, seufzt er zum Abschied und quetscht sich wieder ins geliehene Auto seiner Freundin hinein. Auf dem Beifahrersitz liegt das Buch „Macht – Geschichten von Erfolg und Scheitern“ von Katja Kraus, die acht Jahre lang im Vorstand des Hamburger Sportvereins gesessen hatte. Fußball ist eben nicht alles. Bloß verdammt viel.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. René Adler bekam den Faden von Behcet Algan und gibt ihn an Hans Redlefsen weiter