Bei der Regionalkonferenz im Curio-Haus gab es aber auch Kritik an der geplanten Großen Koalition im Bund

Rotherbaum. Es gibt sie durchaus – die Hamburger Sozialdemokraten, die sich vehement gegen ein schwarz-rotes Bündnis im Bund wehren, gegen Zugeständnisse an die Union, gegen das von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) mitverhandelte Papier. „Die Große Koalition ist ein Witz“, schimpft ein 70-Jähriger am Dienstagabend bei der Regionalkonferenz seiner Partei im Curio-Haus. 1990 ist er in die Partei eingetreten und nur noch enttäuscht von seinen Genossen. „Im Wahlkampf waren wir doch noch alle gegen eine Große Koalition, und jetzt sind wir plötzlich alle dafür?“

Auch Yasemin Fusco aus Wandsbek übt Kritik, spricht von einer „Zweckgemeinschaft“ statt einer „Liebesheirat“: „Warum koalieren wir mit einer derartigen Partei wie der Union und nutzen nicht die Linke-Mehrheit aus? So weit sind wir doch gar nicht von denen entfernt.“ Und ein seit Jahrzehnten in Deutschland lebender Türke findet es „beschämend für dieses Land“, dass er zwar über den Koalitionsvertrag abstimmen, aber nicht wählen darf.

Doch die drei Sozialdemokraten gehören anscheinend zu einer Minderheit an diesem Abend. Stattdessen signalisieren die knapp 1000 Genossen ihrem angereisten Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel Unterstützung auf dem Weg zu Schwarz-Rot. Der Vertrag mit der Union „ist ein großer Fortschritt für die Menschen in Deutschland“ und biete die Chance, „das Leben für viele ein bisschen besser zu machen“.

Gabriel nimmt in seiner Rede die grundsätzlichen Bedenken der Genossen auf: „Es gibt große Sorgen und Ängste vor der Große Koalition. Es wird schwierig, aber Regieren ist immer schwierig.“ So wirbt er mal besonnen, mal angriffslustig für das umstrittene Vertragswerk. Doppelte Staatsbürgerschaft, Mindestlohn, Eindämmung der Leih- und Zeitarbeit, Senkung des Renteneintrittsalters, Frauenquote – nacheinander hakt der Parteichef die Eckpunkte des 185 Seiten umfassenden Koalitionsvertrages ab.

Die mögliche Neuauflage der Großen Koalition könne nicht mit früheren Regierungsbündnissen mit der Union verglichen werden. Die SPD habe aus der Erfahrung der Regierungsjahre 2005 bis 2009 gelernt. Und dann dieser Satz: „Angela Merkel ist nicht die schwarze Witwe im Netz, die darauf wartet, uns zu verspeisen.“ So sei die damals eingeführte Rente mit 67 Jahren nicht Merkels Idee gewesen. „Wir können unsere Fehler nur selbst machen“, sagt Gabriel. Es liege nun ein Vertrag vor, der die schwersten Fehler von damals – etwa in der Rentenpolitik – ausschließe. Und Gabriel schwant wohl schon, dass manchen Genossen die Verhandlungsergebnisse nicht reichen. Er warnt vor zu hohen Erwartungen. „Günter Grass hat gesagt: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Willy Brandt hat geantwortet: Aber er ist messbar.“

Die Hamburger DGB-Vorsitzende Katja Karger, kein SPD-Mitglied, möchte keine Empfehlung für das Votum über den Koalitionsvertrag abgeben, betont jedoch: „Da steckt eine Menge Gewerkschaft drin.“ Und der langjährige Präsident der Universität, Jürgen Lüthje, lobt, dass Schwarz-Rot neun Milliarden Euro mehr in die Bereiche Wissenschaft und Forschung investieren möchte: „Das verdient allerhöchste Anerkennung.“ SPD-Bundesvize Olaf Scholz, der in vielen Koalitionsrunden mitverhandelt hatte, hob vor allem die Einigung im Staatsbürgerrecht hervor: „Die Abschaffung des Optionszwangs für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern macht die CDU/CSU mit, obwohl sie nicht immer dafür war.“ Jetzt würde die CSU in Bayern mithelfen, das umzusetzen.

„Das ist für den Frieden in diesem Land wirklich ein zusätzlicher Gewinn“, sagte Scholz, der von einer breiten Zustimmung zum Vertrag ausgeht. Das Bündnis von SPD, CDU und CSU wird seiner Einschätzung nach ein Erfolg. Die Mitgliederbefragung „ist eine Innovation im 150. Jahr des Bestehens der SPD“ und werde Schule machen.

Überzeugungsarbeit an der skeptischen Basis: Am Donnerstag hatte Gabriel seine Deutschland-Tour im hessischen Hofheim begonnen. Die Strapazen sind ihm anzusehen. Doch Gabriel wirkt gelöst, macht Scherze. Er möchte die Basis für die „Koalition der nüchternen Vernunft“ begeistern. Nach 32 Regionalkonferenzen stimmen die SPD-Mitglieder bis zum 12.Dezember über den Koalitionsvertrag ab.

Gabriel nennt dies „das seit Jahrzehnten größte Bewegungsprogramm“ der Partei: „Überall in Deutschland treffen sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und sprechen über Politik und darüber, wie wir künftig gemeinsam leben wollen.“ Das allein lohne sich schon. Die Entscheidung soll am 14. Dezember bekannt gegeben werden.