Bis Oktober sind schon mehr Austritte als im gesamten Vorjahr in Hamburg verzeichnet worden. Die Kritik an Tebartz-van Elst und dem Netzerückkauf gelten als mögliche Gründe für die Austrittswelle.

Neustadt. Standesämter haben in diesen Tagen besonders viel zu tun: Hunderte von Hamburgern stimmen monatlich mit den Füßen ab und erklären ihren Austritt aus der evangelischen oder katholischen Kirche. Wie eine Abendblatt-Umfrage in den Bezirken ergeben hat, überschreiten die Austrittszahlen von Januar bis Oktober 2013 schon jetzt das Niveau des gesamten Vorjahres.

Kehrten im vergangenen Jahr zum Beispiel in den Bezirken Harburg, Bergedorf, Altona, Nord und Wandsbek 6183 Hamburger der evangelischen beziehungsweise katholischen Kirche den Rücken, so sind es von Januar bis Oktober 2013 bereits 6500. Die Zahl der Kirchenaustritte in allen sieben Bezirken dürfte bis Oktober bei mehr als 8000 liegen, also mindestens 800 Austritte pro Monat.

Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr registrierten die Ämter insgesamt 8900 Austritte. Weil die Standesämter zunächst weder die Konfessionen unterscheiden noch die Motive abfragen, bleiben die Gründe unbekannt. Aber die Kirchenleute ahnen schon, was die wirklichen Motive für den Schlussstrich unter die Kirchenmitgliedschaft sind. „Wir denken, dass das Handeln des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst bei uns der Auslöser für den Anstieg ist“, sagt Manfred Nielen, Sprecher von Hamburgs Erzbischof Werner Thissen. Der Limburger Kleriker war mit der luxuriösen Sanierung seines Bischofssitzes in die Schlagzeilen geraten. Vor drei Jahren hatte das Bekanntwerden der sexuellen Missbrauchsfälle eine ähnliche Welle ausgelöst.

Auch die Protestanten trifft gegenwärtig ein stärkerer Aderlass. Gerade Menschen mit sehr geringer Kirchenbindung „brauchen oft einen Anlass, der wie ein Tropfen ein Fass zum Überlaufen bringt, um aus Verärgerung auszutreten“, beobachtet Michel-Hauptpastor Alexander Röder. Ein solcher Anlass könne „Limburg“ und das umstrittene „Netzerückkauf-Engagement“ sein, fügt Röder hinzu.

Allein im Bezirk Nord traten im Oktober 221 Hamburger aus der evangelischen und 127 aus der katholischen Kirche aus. „Die Zahl der Austritte aus der römisch-katholischen Kirche ist zurzeit signifikant erhöht“, fügt Wolfgang Peper, Fachamtsleiter Standesamt im Bezirk Nord, hinzu. Ähnlich ist die Lage in Eimsbüttel und Bergedorf. Lag der monatliche Durchschnitt bei den Kirchenaustritten im Bezirk Eimsbüttel im vergangenen Jahr bei 132, so waren es im September bereits 163 und im Oktober 232. Und Dirk Bakker, Fachamtsleiter des Bergedorfer Standesamts, sagt: „Dieses Jahr sind es bisher relativ viele Kirchenaustritte – und zwar 502.“ Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr waren es 467. In Wandsbek erklärten bis zum 7.November mehr als 1800 Mitglieder ihren Kirchenaustritt (2012: 1740).

Die evangelische Kirche reagierte derweil mit Bedauern auf diese Entwicklung. „Jeder Kirchenaustritt ist schmerzhaft“, sagt Mathias Benckert, Sprecher der Nordkirche. „Wir prüfen uns ständig selbstkritisch, wie wir als Institution glaubwürdig handeln. Wir appellieren an alle Kritiker, in der Kirche zu bleiben und sich zu engagieren, weil unsere Kirche für Diskurs und kritische Auseinandersetzungen steht.“ Niemand müsse austreten, um Kritik oder Protest zu verdeutlichen. Um Missstände zu beseitigen, könne man auftreten, empfiehlt er. „Im Übrigen verlieren gegenwärtig viele Institutionen und Organisationen in der Gesellschaft ihre Bindungskraft – von den Gewerkschaften bis zu den Sportvereinen.“

Immerhin 1049 Hamburger traten wieder in die lutherische Kirche ein

Aber es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung, die bei Landesbischof Gerhard Ulrich und Erzbischof Werner Thissen Freude und Dankbarkeit auslöst: Viele Hamburger kehren jedes Jahr in den Schoß der Kirche zurück. So verzeichnete die evangelische Kirche in der Hansestadt im vergangenen Jahr 1049 Wiedereintritte und Konfessionswechsel sowie darüber hinaus 674 Erwachsenentaufen. Bei den Katholiken in Hamburg waren es im selben Zeitraum 167 Wiedereintritte und Übertritte sowie 58 Erwachsenentaufen. Allerdings ist die Zahl der Kircheneintritte und Erwachsenentaufen in der evangelischen Nordkirche von fast 9500 im Jahr 2000 auf rund 7250 (2011) gesunken. Michel-Hauptpastor Röder nennt ganz unterschiedliche Gründe für die Rückkehr. „Die meisten Menschen treten wieder ein, weil ein Ereignis in ihrem Leben oder Lebensumfeld sie zum Glauben und vor allem zum Gebet zurückgeführt hat und nun Gemeinschaft gesucht wird“, sagt er. Das können die Geburt eines Kindes genauso sein wie Todesfälle und Krankheiten.

Um mehr Menschen für die Kirche zu begeistern, müssen die Gottesdienste nach Ansicht des Jenfelder Pastors Thies Hagge wesentlich breiter aufgestellt sein. „Nur zwei Prozent der Deutschen mögen Orgelmusik“, sagt der Gründer des Sozialprojekts „Arche“. Der Internationalität der Gesellschaft werde kaum Rechnung getragen. Auch Alexander Röder plädiert für „qualitätsvolle Gottesdienste“, Bildungsangebote und diakonische Projekte. „Jeder Gottesdienst ist eine Chance, auch Menschen zu erreichen, die die Kirche verlassen haben“, meint er.