Lydia Smuda wird heute 107 Jahre alt. Einen Nazi-General hat sie geohrfeigt. Und Udo Lindenberg gesagt, dass sie dessen Musik gar nicht mag

Winterhude. In ihrem Geburtsjahr wurde der Rundfunk erfunden. Als sie acht Jahre jung war, die Kleinbildkamera. Als junge Dame trocknete sie ihre Locken mit einem der ersten Föhns. Und als Lydia Smuda vor 65 Jahren die allererste Ausgabe des Hamburger Abendblatts in den Händen hielt, war sie bereits über 40.

Seitdem ist für die Hamburgerin, die heute ihren 107. Geburtstag feiert, kein Tag ohne Abendblatt vergangen. Aus „ihrer“ Zeitung erfuhr sie fortan von den rasanten technischen Entwicklungen, den politischen Geschehnissen und den gesellschaftlichen Veränderungen, die das vergangene Jahrhundert, ihr Jahrhundert, geprägt haben.

„Wir mussten gehorchen und hatten nichts zu sagen“, sagt Lydia Smuda über ihre Kindheit. Aufgewachsen ist sie als Tochter eines Werkzeug-Fabrikanten in einer Villa in Remscheid. Der Vater, der die beiden Kinder Emmi und Emil mit in die Ehe gebracht hatte, sei „streng, aber gerecht“ gewesen. Mit ihren acht und neun Jahre älteren Halbgeschwistern verstand sich die kleine Lydia gut. Nur ihrem Vater musste sie immer wieder die Stirn bieten. „Einmal habe ich damit gedroht, auszuziehen“, sagt sie. Das war, als er sie auf einer Handelsschule angemeldet hatte. Sie aber wollte Lehrerin werden, setzte sich durch und durfte drei weitere Jahre die Oberschule besuchen.

Zäh und rebellisch, diese Charaktereigenschaften sind ihr noch heute anzumerken. Beckenbruch und Bauchtumor – was Lydia Smuda in den vergangenen Jahren mit Optimismus überstanden hat, wäre für andere Menschen in ihrem Alter eine schwere Bürde gewesen. Bis vor einem Jahr hat sie sogar in ihrer kleinen Wohnung in Winterhude gelebt. Mittlerweile bewohnt sie ein Apartment in einem Seniorenheim in Blankenese. Nach einem Zusammenbruch – eine Nachbarin hatte sie bewusstlos in ihrer Wohnung gefunden, nachdem ihr aufgefallen war, dass Lydia Smuda ihr Abendblatt nicht aus dem Briefkasten genommen hatte – rieten ihr die Ärzte zu betreutem Wohnen. Dieses Mal widersprach sie nicht.

1933 hätte ihr Dickkopf sie das Leben kosten können, denn da legte sie sich mit einem Nazi-General an. „Er war mir auf den Pelz gerückt, da habe ich ihm eine geklebt“, erzählt Lydia Smuda, die damals ein Kinderheim in Mühlhausen leitete. Tags darauf, vor einem siebenköpfigen Tribunal, zeigte sie sich uneinsichtig. Dafür sollte sie ins Konzentrationslager gebracht werden – das erfuhr ein Kinderarzt, der sie warnte und in der Dunkelheit zum Bahnhof brachte. „Er riskierte sein Leben.“

Sie fuhr zurück nach Remscheid und verdingte sich 1940 als Privatlehrerin bei einer Grafenfamilie in Wolfsburg. Als deren vier Kinder zu alt für den Hausunterricht geworden waren, nahm sie eine Stelle auf einem Rittergut in Hinterpommern an. Auf dem Weg dahin, es war 1944, verpasste Fräulein Berger, wie sie stets genannt wurde, in Hamburg den Zug. „Ich musste mir für die Nacht ein Hotel suchen. Man empfahl mir das Atlantic“, sagt Lydia Smuda. Dass es nicht nur imposant und schön, sondern auch richtig teuer war, erfuhr sie erst am nächsten Morgen. „70 Mark kostete die Übernachtung. Und ich hatte doch nur 75 Mark dabei.“

2009 stattete sie dem Hotel an der Alster erneut einen Besuch ab: Mit anderen Hundertjährigen war sie zum 100. Geburtstag des Atlantic eingeladen. Als sie Udo Lindenberg in der Lobby traf, habe sie ihm erzählt, dass sie seine Musik nicht möge, erinnert sich Lydia Smuda. „Ich habe halt noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.“

Bereits 1943 hatte sie ihren späteren Mann Reinhold kennengelernt. Für die Hochzeit bekam der Soldat zehn Tage Fronturlaub. Der Krieg vertrieb Lydia Smuda dann vom Rittergut; sie floh mit einer Freundin und deren Kindern nach Hamburg. Dort bezog sie die Wohnung ihrer Schwester und nahm das Unterrichten wieder auf. Ihr Mann wurde Chefkoch im Ratsweinkeller. Die Bundesregierung wurde auf ihn aufmerksam und bat ihn, einen ranghohen Politiker als Privatkoch auf dessen Auslandsreisen zu begleiten. „Doch dann wurde bei Untersuchungen festgestellt, dass er eine schwere Nierenkrankheit hat“, erinnert sich Lydia Smuda. Sie hatten noch eine gute Zeit miteinander, aber er starb mit 68.

„Na, habe ich nicht viel erlebt?“, fragt Lydia Smuda in die Runde, die in ihrem Wohnzimmer ihren Erzählungen lauscht. Auch Fitnat Soyka ist gekommen. Ihre Familie hat Lydia Smuda quasi als Oma adoptiert, auch die Geburtstagsfeier heute organisiert. Nach dem Kaffeetrinken geht’s zur Elbe, „Queen Mary“ gucken. Ein Aufeinandertreffen zweier eindrucksvoller Damen.