Der israelische Gesandte Emmanuel Nahshon kam zum Jahrestag der Morde vom Bullenhuser Damm zurück an das „Tor der Hölle“. Dort ermordete die SS 20 Kinder.

Rothenburgsort. Emmanuel Nahshon steht am "Tor zur Hölle", wie er sagt. Deren Schlund befindet sich mitten im Industriegebiet Rothenburgsort. Gegenüber einer Spedition am Bullenhuser Damm erhebt sich ein zwischen 1908 und 1910 gebautes Backsteingebäude. Es ist eine ehemalige Schule; und in seinem Keller fand eines der unmenschlichsten Verbrechen der an Widerwärtigkeiten reichen NS-Zeit in Norddeutschland statt. An Heizungsrohren erhängten SS-Schergen hier im April 1945, wenige Tage also vor der Kapitulation des Hitler-Regimes, 48 Menschen. Unter ihnen waren 20 jüdische Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren.

Nahshon starrt auf die Heizungsrohre in dem kahlen Keller, dessen Räume erst 1980 in eine Gedenkstätte umgewandelt wurden, und er denkt an seine Tochter. Emmanuel Nahshon ist der Gesandte der israelischen Botschaft. Er ist zum ersten Mal am Bullenhuser Damm. "Das ist sehr schwer für mich", sagt er. "Als israelischer Diplomat, als Jude und als Vater." Der Nationalsozialimus sei viel mehr gewesen als eine Diktatur und ein rassistisches Regime. Er sei vielmehr ein Instrument gewesen, um die fundamentalen Gesetze der Menschlichkeit aufzuheben. "Dies ist kein normaler Ort in unserem Leben", sagt der Diplomat, "hier ist etwas Diabolisches geschehen."

Es geschah am 20. April 1945. Die alliierten Armeen sind weit nach Deutschland vorgestoßen. Monatelang hatte der skrupellose und ehrgeizige SS-Arzt Kurt Heißmeyer im Konzentrationslager Neuengamme entsetzliche Experimente an Kindern vorgenommen, die er sich von seinem berüchtigten Kollegen Joseph Mengele aus dem Vernichtungslager Auschwitz hatte schicken lassen. Den zehn Mädchen und zehn Jungen rammte er Sonden in die Lungen und goss eine Brühe mit Tuberkelbazillen hinein. Die Lungen der Kinder bluteten, sie litten entsetzlich. Heißmeyer ließ den Kindern unter unzureichender örtlicher Betäubung die Lymphknoten herausschneiden. 1964 wird er in einem Verhör kalt angeben, dass es für ihn "keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Juden und Versuchstieren" gegeben habe.

Eines der ermordeten Kinder war der Bruder von Jitzhak Reichenbaum, der seit mehr als zehn Jahren zum Gedenktag aus Israel nach Hamburg kommt. Er selbst hat Auschwitz überlebt. Dass sein Bruder nicht in Auschwitz, sondern in Hamburg starb, hat er erst 40 Jahre später aus der Zeitung erfahren, als er erstmals über die Geschehnisse am Bullenhuser Damm las.

Der Massenmord war Folge des stetigen Näherrückens der britischen Armee: Die SS beschließt, alle Spuren der Verbrechen zu beseitigen. Um Mitternacht des 20. April - es ist zynischerweise der Geburtstag des "Führers Adolf Hitler" - werden die 20 Kinder aus Neuengamme in die Schule gebracht, zusammen mit den französischen Ärzten Gabriel Florence und Rene Quenouille sowie den niederländischen Pflegern Dirk Deutekom und Anton Hölzel. Ferner 24 sowjetische Kriegsgefangene, deren Namen man bis heute nicht kennt.

Dr. Alfred Trebinski, SS-Standortarzt im KZ-Neuengamme, sagte später aus, er habe die Kinder nacheinander in einen Kellerraum bestellt, wo er ihnen eine Morphiumspritze gegeben haben will. Anschließend habe man die Kinder in den Nebenraum gebracht und in eine Schlinge gehängt. Der SS-Rottenführer Johann Frahm habe sich mit seinem ganzen Körpergewicht an die Kinder gehängt, um sie zu strangulieren.

Der Museumspädagoge und Historiker Joachim Lietzke hält die Geschichte von den "gnädigen" Morphiumspritzen für eine nicht bewiesene Schutzbehauptung Trebinskis. Seit vielen Jahren führt er fast täglich Besucher durch den Ort des Grauens, heute ist es Emmanual Nahshon. Mit versteinertem Gesicht steht der Schauspieler Rolf Becker daneben, er kommt seit 20 Jahren hierher. Auf der Gedenkfeier wenig später wird er Brechts "Kinderkreuzzug" rezitieren.

Die meisten der beteiligten SS-Schergen wurden nach dem Krieg abgeurteilt und hingerichtet; auch Trebinski. Heißmeyer gelang es, in der DDR noch als Arzt Karriere zu machen - er betrieb eine Lungenklinik - bevor er enttarnt wurde. Er starb 1967 in der Haft. Der Kommandant des SS-Außenlagers am Bullenhuser Damm, Arnold Strippel, starb 1994 in Freiheit. Das Landgericht Hamburg hatte das Verfahren gegen ihn wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Wegen zu viel verbüßter Haft hatte der Massenmörder Strippel zuvor schon 121.500 Mark Haftentschädigung vom Staat erhalten.

Die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm wurde lange unter den Teppich gekehrt; erst der Journalist Günther Schwarberg machte sie mehr als 30 Jahre später publik. Die "Vereinigung der Kinder vom Bullenhuser Damm" wurde gegründet und ermittelte Angehörige der Ermordeten. Am 20. April 1979 kamen sie zum ersten Mal zusammen. Ein Rosengarten wurde angelegt; mit Gedenktafeln für die Kinder. Auf einer ist das Foto von Mania Altmann zu sehen. Ein Strickmützchen auf dem Kopf, blickt sie vertrauensvoll in die Kamera. Mania wurde im Alter von fünf Jahren im Keller der Schule erdrosselt. Ihre Mutter Pola Altmann konnte vor dem NS-Terror fliehen und starb 1971 in Chicago. Sie hat nie erfahren, wie ihre Tochter ums Leben kam.