Am Hauptbahnhof steht die “Machina Recordatio“, eine interaktive Datenbank. 100 Menschen zwischen 60 und 95 geben Tipps fürs Leben.

Hamburg. Wie gelingt ein Apfelkuchen? Was ist Glück? Hört das Zweifeln irgendwann auf? Und wie übersteht man unbeschadet eine Familienfeier? Wer heute etwas wissen will, surft meist erst einmal im Internet. Dabei wohnt der beste Rat manchmal gleich nebenan, sitzt nur einen Anruf weit entfernt - oder tönt aus einer Holzkiste, die seit Mittwoch am Glockengießerwall zwischen der Kunsthalle und dem Hauptbahnhof steht.

"Machina Recordatio" heißt die Kiste, die zu einem Projekt auf Kampnagel gehört. In ihrem Innern findet sich eine interaktive Datenbank, randvoll gefüllt mit Ratschlägen zu Liebes-, Lebens- und Alltagsdingen, gegeben von Menschen zwischen 60 und 95 Jahren. "Aus meiner Generation haben viele vergessen, dass es Leute gibt, die alles schon einmal erlebt, gelernt und gemacht haben", sagt die Hamburger Regisseurin Maria Magdalena Ludewig. So wie Hühnersuppe kochen, Baumhäuser bauen, Streit beilegen, Trauer überwinden. Für die 31-Jährige sind Senioren deshalb "die Experten des Lebens". Randvoll gefüllt mit Erfahrungen, die zu wenig genutzt und abgerufen werden. Maria Magdalena Ludewig begann deshalb, dieses Wissen zu sammeln. Rund 100 alte Menschen interviewte sie in den vergangenen Monaten in Hamburg, Berlin und Dresden und entwickelte die "Machina Recordatio", um dieses Wissen jüngeren Generationen zugänglich zu machen.

Sie stieß mit ihrer Idee auf offene Türen. Zum Beispiel bei Renate Waller, 70, und ihrem Mann Klaus Wichers, 66, aus Stellingen, die sofort begeistert mitmachten und von entscheidenden Phasen in ihrem Leben erzählten. Er: "Ich habe fünf Kinder und hatte irgendwann das Gefühl, dass ich mich von meiner damaligen Frau und damit auch von meiner Familie trennen muss. Nach jahrelangen Kämpfen habe ich das durchgezogen. Die Zeit damals war schwierig, aber die Entscheidung war richtig. Mein Rat: Auch wenn es schwerfällt, es ist besser zu handeln, als still auszuhalten." Sie: "Auch wenn man es, so wie ich, als Kind mit anderen Kindern nicht leicht hatte, so ist die Erfahrung, dass man nicht immer und von allen beklatscht wird, doch wichtig. Scheitern ist nicht das Ende, scheitern macht stark. Entscheidend ist, dass Kinder einen Rückhalt haben. Jedes Kind braucht wenigstens einen Menschen, der an es glaubt."

Für Maria Magdalena Ludewig kam die Begeisterung ihrer Interviewpartner nicht überraschend: "Die meisten Menschen haben etwas zu erzählen. Unsere Großeltern stellen sich aber nicht in den Vordergrund. Diese Generation macht kein großes Gewese um sich. Aber irgendwann stellt sich doch jeder die Frage: Was bleibt?" Die Idee zu diesem Projekt hatte sie während eines Besuchs ihrer eigenen, im Wachkoma liegenden Oma. "Als mein Vater ihr Lieder aus ihrer Jugend vorsang, begann sie plötzlich zu weinen", erinnert sich die junge Frau. Die eigene Oma, es war noch so viel ungesagt.

Unterstützung bekam Maria Magdalena Ludewig von Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard: "Dieses Projekt lässt neue Welten entstehen. Schön ist, dass die jungen Menschen den alten mit Neugierde und nicht mit Mitleid begegnen." Die "Machina Recordatio" ist der Auftakt des Musik- und Theaterprojekts "Dem Weggehen zugewandt", das vom 16. bis zum 18. Mai auf Kampnagel uraufgeführt wird. Es geht um musikalische Erinnerungen, die zu den tiefsten gehören, die jeder Mensch in sich hat.

Die Erinnerungsmaschine selbst wird noch bis zum 18. April am Glockengießerwall stehen, wechselt dann auf den Bruno-Tesch-Platz (bis 28. April) nach Altona, in den Ernst-Cassirer-Park an der Rothenbaumchaussee (bis 8. Mai) und auf das Kampnagelgelände (bis 19. Mai), bevor es weitergeht nach Berlin und Dresden. Im Internet ist die Datenbank ebenfalls zu finden. Unter www.machina-recordatio.de können die Interviews angehört werden. Es kann nach bestimmten Rednern, aber auch nach Schlagwörtern gesucht werden. Es besteht außerdem die Möglichkeit, neue Fragen zu stellen oder sich als Interviewpartner zu melden.

"Ich hatte gerade eine Frau, die hat gesungen und erzählt, dass sie jetzt alt ist und viel erlebt hat." Chiara ist neun Jahre alt. Sie geht auf die Bugenhagenschule in Groß Flottbek und ist auf dem Weg zur Kunsthalle, als ihre Klasse am Mittwoch an der "Machina Recordatio" haltmacht. Chiara und ihre Mitschüler drücken ihre Ohren an die Holzwände und lauschen den Geschichten. Der zehnjährige Levi ist begeistert: "Ich frage meine Oma manchmal, wie es früher im Zweiten Weltkrieg war. Sie hat mir erzählt, wie sie einmal auf einer Brücke stand, als es gefährlich wurde, und mein Opa sie gerade noch wegziehen und retten konnte." Sein Freund Jonathan hört neugierig zu: "Ich habe meine Oma noch nie nach früher gefragt. Aber das mache ich, wenn ich sie das nächste Mal treffe."