Inge Hannemann weigert sich, Sanktionen gegen Arbeitslose auszusprechen. Sie hält das System für gescheitert und wurde zur Netz-Ikone.

Hamburg. In der offenen Küche dampft auf dem Tresen ein Kaffee, der Laptop ist aufgeklappt. Facebook- und Twitter-Meldungen ploppen im Wechsel auf. Wieder klingelt eines der beiden Telefone von Inge Hannemann, die sich hier in ihrer Wohnung an der Altonaer Jessenstraße eine Art Kampagnenbüro eingerichtet hat. "Berlin, aus dem Bundestag", sagt die sportliche, eher zierliche 44-Jährige, als sie kurz auf die Nummer blickt, die da aufblinkt. Seit einigen Tagen ist die Mitarbeiterin des Jobcenters Altona bei Arbeitslosen-Initiativen und Kritikern des deutschen Hartz-IV-Systems bundesweit zu einer Symbolfigur geworden - während sie sich mit ihrem Arbeitgeber, der Hamburger Sozialbehörde, heftigen Ärger eingehandelt hat. Hannemann weigert sich beharrlich, Hartz-IV-Empfänger mit den üblichen Sanktionen zu belegen. Also Geldzuweisungen zu kürzen, wenn ihre "Kunden", wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, nicht zu Beratungsterminen erscheinen oder Jobs ablehnen.

"Das Kürzen ist menschenunwürdig, weil die Beträge schon so am Existenzminimum liegen", sagt sie. Doch es ist nicht nur ein stilles Aufbegehren, das sie mittlerweile in den Chefetagen von Behörden als hartnäckige Querulantin bekannt gemacht hat. Seit zwei Jahren schon schreibt sie einen Internet-Blog und informiert über Rechte und Hintergründe in Hartz-IV-Fragen. Vor genau einem Jahr wurde ihr Ton schärfer, sie gründete den Blog "altonabloggt" und übt darin schwere Kritik an der Arbeit von Jobcentern. Jenen Behörden, in denen als Teil der Hartz-IV-Reformen die Arbeit von Sozial- und Arbeitsämtern zusammengeführt wurden, um Langzeit-Erwerbslose zu Arbeitsstellen zu verhelfen. Mancher Jobcenter-Mitarbeiter würde ohne Bedenken sanktionieren, Chefs auf Sollzahlen dabei drängen, wie die steigenden Sanktionszahlen beweisen würden. Die Beratungszeit sei zu knapp, der Druck zu groß. "Und wir sollen die Menschen in prekäre Zeitarbeitsjobs oder sinnlose Maßnahmen vermitteln, um Zielzahlen zu erfüllen", sagt sie und nennt ein Hamburger Angebot, wo Hartz-IV-Bezieher Puzzles zusammensetzen müssen, um wieder ein strukturiertes Arbeitsleben zu erlernen, wie es in der Beschreibung des Anbieters heißt. "Daran wird nur verdient, bringt aber nichts und ist unwürdig", sagt Hannemann.

Hier geht es zum Blog von Inge Hannemann

Dass solche Kritik und Interna aus dem Innenleben der Jobcenter nicht im Verborgenen bleiben, sei ihr von Anfang an klar gewesen und mit ihrem Mann besprochen, sagt sie. Ein geplanter Eklat sozusagen. "Ich bin ein strategischer Mensch", sagt Hannemann. Dann steht sie dynamisch auf, holt einen neuen Kaffee. Man sieht den Bewegungen an, dass sie sich mit viel Sport fit hält. Sie ist Triathletin, läuft oft 20 Kilometer an der Elbe. "Um den Kopf freizukriegen." Der lange Atem - das zahlt sich offensichtlich auch in ihrem Kampf gegen das System Hartz IV aus: Inzwischen bekommt sie anonyme Hinweise von Kollegen und ihr helfen ehrenamtliche Unterstützer, sichten E-Mails, koordinieren Vortragstermine und recherchieren, ob nicht die rechte Szene oder Verschwörungstheoretiker zu Trittbrettfahrern ihrer beginnenden Popularität werden wollen. Hannemann selbst spricht mittlerweile von "wir", wenn sie von ihren Aktionen berichtet. Wie stark der Unterstützerkreis ist, erfuhr die Hamburger Sozialbehörde vor ein paar Tagen. In einem Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt, hatte sie die Behörde zu einer Anhörung binnen zwei Tagen aufgefordert. Man wolle darüber sprechen, ob sie an den Inhalten ihres Blogs festhalten oder davon nicht doch lieber abrücken wolle, heißt es dort sinngemäß und mit bedrohlichem Unterton. Flugs gab es im Netz Aufrufe zu einer Kundgebung - und man nahm in der Behörde lieber wieder Abstand von der Anhörung, wie die Pressestelle bestätigt: "Es ist zutreffend, dass beabsichtigt war, Frau H. anzuhören, und dass dieser Termin wegen der angekündigten Kundgebung abgesagt wurde", so ein Sprecher. Im Übrigen wolle und dürfe die Behörde zu vertraulichen Personalvorgängen keine Auskunft erteilen. Hannemann selbst spricht inzwischen von Mobbing. "Den Job bin ich los, das weiß ich", sagt sie.

Doch so einfach ist das offensichtlich nicht. Hannemann sanktioniert zwar nicht, sie suche aber permanent das persönliche Gespräch, telefoniert hinterher, trifft sich auch zum Kaffee, sagt sie. "Ich muss dann gar nicht sanktionieren." Und sie weiß genau, wo die Grenzlinien verlaufen, um ihr arbeitsrechtliche Vorwürfe zu machen: Die Interna, die sie verbreitet, sind nie zu konkret, Vorwürfe lässt sie juristisch checken. Und tatsächlich gibt es bei Sanktionen nach Auskunft des Jobcenters Team Hamburg für Arbeitsvermittler wie Hannemann zwar keinen eigentlichen Ermessensspielraum. Doch wenn es gute Begründungen für eine Absage gibt, müsse auch nicht sanktioniert werden. Hannemann sucht mit ihren Hausbesuchen die Begründungen praktisch selbst mit. "Ich arbeite eben anders als andere", sagt sie. Für Hannemann selbst geht es aber nicht um Kritik an Kollegen, es gehe ihr ums System, betont sie.

Aufgewachsen ist Inge Hannemann zunächst in Hamburg, mit zwölf zog sie mit den Eltern nach Süddeutschland. In Baden-Württemberg engagierte sie sich bei den Jusos, lernte Speditionskauffrau, studierte Journalismus und arbeitete bei Bildungsträgern und bald auch im Jobcenter Freiburg, während sie sich als Alleinerziehende um eine Tochter kümmert, die inzwischen in Frankreich studiert. 2006 zog sie zurück nach Hamburg, heiratete und startete vor zwei Jahren den ersten Blog.

Das Ziel sei dabei klar. "Es geht letztlich um die Abschaffung von Hartz IV", sagt Inge Hannemann ohne Zögern bei der Frage nach ihren Motiven. Stattdessen plädiert sie für ein bedingungsloses Einkommen für alle von 1000 Euro im Monat und sieht sich damit als Teil einer bundesweiten Bewegung. Wer das bezahlen soll? Ob man nicht eine soziale Hängematte für Faule schafft? Diese Fragen kenne sie zur Genüge. Unterm Strich koste das gar nicht so viel, wenn der ganze "unwürdige" Vermittlungs- und Maßnahmenaufwand einfach aufgegeben werde, argumentiert sie. Schon so würde der Staat für einen alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger durchschnittlich etwas mehr als 800 Euro aufwenden. Dabei sei heute die Vermittlungsrate in dauerhafte, feste Jobs äußerst gering, sie liege in Altona lediglich bei 1,7 Prozent, sagt Hannemann.

Und wirklich faule, Arbeitsunwillige gebe es aber nur sehr wenige. "Drei von hundert vielleicht", glaubt sie. Eine Quote, die es auch unter den Erwerbstätigen in großen Firmen und Behörden gebe. "Die wurden schon immer mit durchgeschleppt", sagt sie. Dann klingelt wieder das Telefon. Eine Interviewanfrage. Aus Berlin.