1,2 Millionen Menschen beteiligten sich 2012 an Arbeitskämpfen in Deutschland. Experten erwarten weiteren Anstieg in diesem Jahr.

Hamburg. Schon fünf Streiktage am Hamburger Flughafen in diesem Jahr, ein monatelanger Arbeitskampf bei dem Hamburger Verpackungshersteller Neupack, etliche Warnstreiks in einem lang anhaltenden Tarifstreit bei dem Windkraftanlagenbauer Repower - es scheint ganz so, als sei die Hemmschwelle für Arbeitsniederlegungen bei den Gewerkschaften und den Beschäftigten zuletzt deutlich gesunken.

Tatsächlich ist das nicht nur ein subjektiver Eindruck. Die Zahl der an Streiks und Warnstreiks beteiligten Mitarbeiter hat sich im Jahr 2012 im Vergleich zu 2011 von rund 180.000 auf etwa 1,2 Millionen mehr als versechsfacht, wie eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Düsseldorfer Hans-Böckler-Stiftung zeigt.

Mit geschätzt 630.000 Ausfalltagen lag das Arbeitskampfvolumen mehr als doppelt so hoch wie 2011. "Weiter zugenommen hat auch die Konflikthäufigkeit", sagte der WSI-Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch. "Insgesamt verzeichnen wir für 2012 mehr als 250 Streiks und Warnstreiks."

Insbesondere Reisende mussten in den vergangenen Tagen zu der Auffassung gelangen, in diesem Jahr sehe es nicht besser aus: Erst führte ein Warnstreik bei der Bahn zu massiven Behinderungen des Zugverkehrs, dann legte ein Ausstand bei der Lufthansa große Teile des deutschen Flugverkehrs für einen halben Tag lahm. Bisher deutet auch nach Einschätzung von Dribbusch wenig auf ein arbeitskampfarmes Jahr 2013 hin. Hohes Konfliktpotenzial birgt nach seiner Prognose die Tarifrunde im Einzelhandel, nachdem die Arbeitgeberverbände dort die Manteltarifverträge über Urlaub, Arbeitszeit und Zuschläge gekündigt haben.

Wer allerdings meine, die Bundesrepublik habe im Hinblick auf die Häufigkeit von Arbeitsniederlegungen bereits zu anderen Ländern wie etwa Spanien, Italien oder Großbritannien aufgeschlossen, befinde sich im Irrtum, sagte Frank Bsirske, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, dem Abendblatt: "Was die Streikintensität angeht, liegt Deutschland im europäischen Vergleich immer noch im unteren Bereich."

Dies bestätigen die Erhebungen des WSI. Demnach gab es im vorigen Jahr in Deutschland 17 streikbedingte Ausfalltage auf je 1000 Beschäftigte, im Zeitraum von 2004 bis 2010 waren es im Mittel 15 Tage. In Frankreich entfielen nach Angaben von Dribbusch auf 1000 Beschäftigte hingegen im Jahresdurchschnitt 162 Arbeitskampftage, selbst in Dänemark waren es 123 Tage.

Doch Deutschland könnte aufholen, fürchtet Roland Wolf, Leiter der Abteilung Arbeits- und Tarifrecht bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): "Die Sorge, dass es zu mehr Streiks kommt, ist nicht unberechtigt, schon weil es mehr arbeitskampfwillige Organisationen gibt." Wolf sieht einen Zusammenhang zu dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010, wonach in einem Betrieb auch mehrere Tarifverträge gelten können: "Die Tarifautonomie ist in großen Unternehmen schneller zerfallen als erwartet."

Der Experte verweist auch auf Erfolge der sogenannten Spartengewerkschaften speziell für bestimmte Berufsgruppen wie etwa Ärzte, Piloten oder Fluglotsen. Solchen Organisationen war es gelungen, dank hohen Organisationsgrades und der Fähigkeit, durch Arbeitsniederlegungen eines nur relativ kleinen Personenkreises große Wirkung zu erzielen, teils beachtliche Abschlüsse zu erkämpfen. "Große Gewerkschaften versuchen nun nachzuziehen", so Wolf. "Das ist ein Prozess der gegenseitigen Aufschaukelung - und hochgefährlich." Der BDA-Tarifexperte spielt damit offenbar vor allem auf die Gewerkschaft Ver.di an. Tatsächlich habe die Streikhäufigkeit im vergangenen Jahr gerade im Dienstleistungsbereich mit "seiner zerklüfteten Tariflandschaft" einen neuen Höchststand erreicht, erklärte Dribbusch: "Im Jahr 2012 lagen dem Bundesvorstand von Ver.di 188 neue Anträge auf Arbeitskampfmaßnahmen vor, so viele wie noch nie seit der Gründung der Gewerkschaft."

Deren Vorsitzender Bsirske bestreitet jedoch, dass man das Verhalten der Spartengewerkschaften kopiere: "Ich sehe nicht, dass die Art und Weise, wie die Piloten und die Ärzte des Marburger Bundes vorgegangen sind, das Vorbild für die Streiks von Ver.di geliefert haben. Dafür ist schon die materielle Situation der Beschäftigten zu unterschiedlich." Nach Auffassung von Bsirske gibt es zwei Gründe für die zunehmende Härte der Tarifauseinandersetzungen: "Die Ertragslage vieler Firmen ist relativ gut, und die Beschäftigten möchten am Unternehmenserfolg teilhaben. Gleichzeitig nimmt in der Gesellschaft die Sensibilität für soziale Gerechtigkeit zu - man sieht über Armutslöhne nicht mehr einfach hinweg."

Als Beleg dafür nennt der Ver.di-Chef die jüngsten Streiks der Luftsicherheitsassistenten auch in Hamburg: "Nach meinem Eindruck gibt es viel Verständnis bei den Passagieren dafür, dass ein erheblicher Teil der Beschäftigten an den Sicherheitskontrollen mit den dort gezahlten Löhnen nicht über die Runden kommt und das nun ändern will." Ähnliches beobachtet der WSI-Forscher Dribbusch: "Es ist bemerkenswert, dass diese Streiks selbst bei Fluggästen auf relativ viel Verständnis stoßen." Dies wertet er als Zeichen dafür, "dass die Verdiscounterung des Arbeitsmarktes inzwischen in der Gesellschaft auf breites Unbehagen stößt".

Zwar weist BDA-Abteilungsleiter Wolf eine solche Sichtweise zurück. Aber jüngste Zahlen zur Entwicklung der Mitarbeiterzahl von Ver.di deuten darauf hin, dass sich die erhöhte Streikbereitschaft in dieser Hinsicht auszahlt: "Ver.di hatte im Januar mehr als 11.000 Neueintritte, im Februar mehr als 13.000 und in den ersten Märzwochen schon über 9000", sagte Bsirske. "Offensichtlich reift bei den Menschen die Erkenntnis, dass Solidarität auch eine intelligente Form des Eigennutzes darstellt. Das schlägt sich in verstärkter gewerkschaftlicher Organisation nieder."