Immer mehr Hörende lernen in Hamburg Gebärdensprache - und entdecken dabei, dass diese nicht Ersatz, sondern vielmehr Bereicherung ist.

Die Tür ist zu. Keiner darf mehr sprechen. Plötzlich taucht der ganze Raum in Stille ein.

Obwohl, nein. Ganz still ist es eigentlich nicht. Da liegt eine Uhr auf dem Tisch in der Ecke. Hat der Sekundenzeiger schon vorher so laut getickt? Und dann ist da dieses Knirschen bei jedem Schritt, weil der Sand von den gestreuten Gehwegen unter den Schuhsohlen auf dem Linoleumboden reibt. Der Filzstift quietscht beim Schreiben. Stoff reibt aneinander. Atmen. Draußen fährt ein Auto vorbei.

Nach und nach kalibrieren sich die Sinne neu. So, wie in einem nächtlichen Wald die Augen Minuten brauchen, um die Umgebung zu erkennen, stellt das Gehör sich langsam auf die ungewohnte Ruhe ein. Es ist ein kalter Donnerstag im Januar, hart gefrorene Schneereste haben sich in den Vorgärten festgesetzt. In einem schlichten Kellerraum in Othmarschen zerfällt der dichte Brei des alltäglichen Hintergrundrauschens Stück für Stück in seine Einzellaute.

Nicole Simon, mit dem Filzstift in der Hand, schreibt: "Wo lernst du DGS?". Quietschen an der Tafel, Knirschen unter den Füßen, Stoffgeraschel, Atmen. Eine einfache Lektion. Es ist der vierte Tag eines einwöchigen Anfängerkurses für Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS, im Haus des Gehörlosenverbandes Hamburg an der Bernadottestraße. Nicole Simon, von Geburt an gehörlos, ist die Dozentin. Vier Frauen sitzen in einem Stuhlhalbkreis als Schülerinnen vor ihr. Sie können hören.

Wo lernst du DGS? Nicole Simon macht die Gebärden vor. Erst für "du", denn die Grammatik in der Gebärdensprache funktioniert anders als die der Lautsprache. Das Muster ist: "Du DGS lernen wo?" Deshalb das erste Wort: "Du". Diese Gebärde ist leicht. Nicole Simon zeigt mit dem Zeigefinger auf Barbara Brauer, eine der Teilnehmerinnen, im Stuhlhalbkreis ganz links. "DGS" - hier wird jeder Buchstabe per Fingeralphabet einzeln buchstabiert. "Lernen" - alle fünf Fingerspitzen der rechten Hand berühren sich und tippen an die rechte Schläfe. Letztes Wort: "Wo?" Beide Hände werden fragend auseinandergehalten, Handflächen nach oben.

Sechs Handbewegungen für einen Satz. Eine Sprache allein der Hände ist Gebärdensprache trotzdem nicht: Der ganze Oberkörper ist in Bewegung, jedes Wort wird auch mit den Lippen geformt, Augen, Brauen und die gesamte Mimik sind Teil der Kommunikation.

Die Zahl der Gehörlosen wird in Hamburg auf rund 2000 geschätzt, der deutsche Gehörlosenbund zählt bundesweit etwa 80.000. Was sie eint, ist dabei weit mehr als die Gehörlosigkeit. Sie teilen neben einer gemeinsamen Sprache auch eine gemeinsame Kultur - und in die tauchen jetzt auch immer mehr Hörende ein.

Barbara Brauer etwa, 57 Jahre alt, eine zierliche Frau mit schwarzem Strickpullover und einem Schal in leuchtendem Orange. Sie lebt seit einiger Zeit in einer Patchworkfamilie aus Hörenden und Gehörlosen. Sowohl ihre Schwiegertochter und deren Mann als auch deren Tochter können nicht hören, ihre eigenen Kinder und Enkel aber schon. "Die Kleinen spielen trotz aller vermeintlichen Barrieren wie selbstverständlich miteinander und sind ein Herz und eine Seele", erzählt sie. Bei den Erwachsenen gebe es aber mehr Hemmungen, die sie nun abzubauen versuche.

Jeder, der sich hier anmeldet, hat andere Gründe. Viele lernen Gebärdensprache einfach aus Interesse. So wie manche an der Volkshochschule einen Italienischkurs belegen. Angelika Fehrenkamp wiederum, im Stuhlhalbkreis ganz rechts, ist in ihrem Büro zur Führungskraft aufgestiegen. Einer ihrer Mitarbeiter ist gehörlos. Weil er nicht das Gefühl haben soll, im Kollegenkreis außen vor zu sein, ist sie hier. "Um ihm Respekt entgegenzubringen."

Um Respekt geht es bei dem Kurs viel. Deswegen gibt es auch die Regel, dass sich die hörenden Teilnehmer nicht untereinander unterhalten, um den Dozenten nicht zu benachteiligen. Zwar sind teilweise auch Dolmetscher im Raum, um die Verständigung zwischen den DGS-Anfängern und Profis zu erleichtern, manchmal ist die Gruppe aber auch auf sich gestellt. Dann funktioniert die Kommunikation wortwörtlich mit Händen und Füßen - oder per Stift und Tafel.

Früher, erzählt Nicole Simon dem Abendblatt mithilfe einer Dolmetscherin, habe es nur um die zweimal pro Jahr einen DGS-Grundkurs gegeben. Vor allem, seit Gebärdensprache im Jahr 2002 als eigenständige Sprache anerkannt wurde, gebe es aber immer mehr Interessenten. Heute werden Abendkurse angeboten, Wochenendkurse, Kompaktkurse, Intensivkurse. "Bis man die Chance hat, sich auf DGS zu unterhalten, braucht man mindestens 90 Stunden", sagt Simon. Sie vergleicht DGS gern mit Japanisch. Barbara Brauer sagt: "Wer mit DGS anfängt, kann seine bekannte Sprache und Grammatik im Grunde komplett in den Mülleimer werfen. Man muss alles ganz neu lernen." Schon beim bloßen Beobachten des Kurses ahnt man, wie anstrengend das ist.

Gebärdensprache zu lernen heißt, sich zu konzentrieren lernen. Sich dem anderen voll und ganz zuzuwenden, ohne Ablenkung. Keine Geste, keine Bewegung der Augenbrauen darf einem entgehen. Sich in Gebärdensprache zu unterhalten ist deshalb auf gewisse Art und Weise intim. "Genau das finde ich so schön", sagt Brauer. "Man lernt wieder, worauf es bei Kommunikation und beim Miteinander eigentlich ankommt." Ganz anders als im alltäglichen Leben Hörender, in dem es kein Problem sei, jemandem über die Schulter etwas zuzurufen und nebenbei das Geschirr abzuwaschen. "Diese Erkenntnis ist eines der schönsten Dinge, die ich neben der Sprache aus diesem Kurs mitnehme", sagt Brauer. "Hier werde ich als Mensch im Ganzen wahrgenommen und ich nehme mein Gegenüber auch im Ganzen wahr."

Und so lernen die Kursteilnehmer, dass DGS viel mehr ist als nur ein Ersatz für Lautsprache. Sie lernen, dass sie eine eigene, mitunter faszinierende Welt ist, die durch die Vielzahl der Ausdrucksmittel oft mehr zu sagen vermag als das gesprochene Wort. Sie lernen zuzuhören und genau hinzusehen - eine Erfahrung, die körperlich aufreibend ist. Alle vier Frauen des Kurses fallen abends todmüde ins Bett. Den ganzen Tag zu einhundert Prozent aufmerksam zu sein, andere Sinne als die gewohnten zu gebrauchen, strengt an.

Die für Anfänger leichten Gebärden sind dabei jene, die Bilder schaffen. Die Hamburger Stadtteile etwa haben eigene Gebärden, einige sind unmittelbar einleuchtend: Wer "Harburg" sagen will, nimmt eine Haarsträhne in die Hand, wer Harvestehude sagen will, imitiert das Harfespiel. Auch die Gebärde für "essen" ist so, wie man sie sich vorstellen würde: Man tut so, als würde man einen Löffel in der Hand halten und führt ihn zum Mund. Im arabischen Raum wird die Bewegung nachgeahmt, mit den Fingern zu essen. "Auch Gebärdensprache", sagt Simon, "ist in jedem Land anders."

Selbst in Deutschland unterscheiden sich die Dialekte zum Teil massiv. Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg erstellt deshalb gerade ein Wörterbuch für DGS. Die Gebärde für "Polizei" etwa ist in Berlin, den ausgestreckten Zeigefinger vor die Stirn zu halten. In Hamburg hält man ihn nacheinander an Stirn und Schultern. Wie in der Lautsprache kann es einem Hamburger also mitunter schwerfallen, einen Bayern zu verstehen.

Je länger der DGS-Kurs an diesem Tag dauert, desto mehr rücken auch die Geräusche, die anfangs so präsent waren, wieder in den Hintergrund. Das Knirschen, das Rascheln, das Ticken der Uhr. Nicht mehr auf das Gehör, sondern auf Augen und Gefühl kommt es an. Die Sinne haben sich darauf eingestellt. Nicole Simon hat diesen Effekt bei ihren Schülern schon öfter beobachtet. Sie lächelt, geht an die Tafel und schreibt: "Die Ohren haben Urlaub."