Unternehmen Seldis Polysteen in der Neustadt liefert weltweit Taue. Doch Nachwuchs ist schwer zu bekommen. Takler-Beruf nicht mehr gelehrt.

Hamburg. Die Neustadt in der Nähe der Michaelis-Kirche. Rotklinkerhäuser reihen sich aneinander. Kleine Geschäfte sind in den Erdgeschossen der Martin-Luther-Straße eingezogen. Eine Galerie, eine Bäckerei, ein Elektroladen folgen aufeinander. Darüber liegen Wohnungen. Dann plötzlich ein Rolltor, eine Einfahrt für Lkw. Gleich neben der Haustür aus Stahl und Milchglas wurde ein Firmenschild montiert: Seldis Polysteen steht darauf. Hier, mitten in einem Wohngebiet, liegen Werkstatt und Lager einer der beiden Hamburger Seilerfirmen, die die Schiffe der weltweit größten Reedereien mit Tauen, Gurten oder Strickleitern versorgen. "Firmen wie Hapag-Lloyd, Hamburg Süd, die Charterreeder Claus-Peter Offen, Erck Rickmers oder die Schweizer Großreederei MSC zählen zu unseren Kunden", sagt Seldis-Geschäftsführer Norbert Ahlf. Den Routen ihrer Schiffe folgt der Hamburger Mittelständler jetzt. "Wir suchen weltweit Partner", sagt Ahlf.

Die neue Strategie ist nötig, weil viele Schiffe auf ihren Linien keine europäischen Häfen mehr anlaufen. Festmachertaue, die Ausrüstung für Kräne oder die gelbschwarzen Leinen für Absperrungen an Bord muss Seldis daher auf allen Kontinenten bereitstellen können. "Bei einer Belegschaft von 20 Mitarbeitern können wir das aber nicht mit eigenem Personal schaffen", sagt der 57-jährige Unternehmer. Deshalb hat er nach Lagern in Kroatien und am Suezkanal nun zwei weitere in Hongkong und Singapur etabliert. Das Material wird dort von internationalen Partnern der Hamburger direkt an Bord geliefert. "Jetzt wollen wir in Long Beach, dem Hafen von Los Angeles, aktiv werden", sagt Ahlf. Außerdem haben uns Kunden angesprochen, ob wir nicht auch am Panamakanal einen Standort einrichten könnten."

Die weltweite Logistik ist ein Teil der Arbeit bei Seldis. In der 1200 Quadratmeter großen Werkstatt, die zum Teil direkt unter den Wohnungen von drei hintereinanderstehenden Häusern liegt, überwiegt dagegen Handarbeit. So fertigt Rainer Mordhorst, ein Matrose, der sich vor 33 Jahren für den Job an Land entschied, gerade eine Lotsenleiter. Neun Meter lang sind die gängigen Modelle. Alle paar Meter zieht der 61-Jährige die vorgeschriebenen überbreiten Stufen ein. Sie sollen verhindern, dass sich die Leitern bei Seegang an der Bordwand drehen, und der Lotse in Gefahr gerät. "Die 1000 Euro teure Leiter geht zunächst ins Lager", sagt Mordhorst. Denn solche Ausrüstungsteile werden verlässlich nachgefragt.

Das Seldis-Team muss aber auch in der Werkstatt im Takt der Weltwirtschaft arbeiten. Denn Reedereien entscheiden oftmals so kurzfristig über ihre Bestellungen, dass Taue in 48 Stunden geliefert werden müssen. Die Hafenliegezeiten, die dafür bleiben, sind meist noch kürzer. Notfalls schickt Ahlf Taue per Lkw in einen europäischen Hafen oder im Flugzeug um die Welt. Selbst hohe Transportkosten rechnen sich, wenn Frachter mit der jeweils notwendigen Ausstattung rechtzeitig auslaufen können.

Um die auf Rollen aufgewickelten, bis zu 1000 Meter langen Stahlseile rasch und sauber zuschneiden zu können, hat Seldis eine eigene Konstruktion entwickelt. Zwei aufeinander zulaufende Messer verrichten unter einer schlichten blauen Haube die Arbeit, für die sonst Trennschneider eingesetzt werden. "Dieses Vorgehen vermeidet Lärm, der die Mieter über uns stören würde, und wir brauchen keinen Staub abzusaugen", freut sich Ahlf. Die Maschine, für die er Ende der 90er-Jahre 30.000 Mark investiert hat, gilt als weltweites Unikat.

Für die Arbeit in der Werkstatt wird der Diplom-Ökonom und gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann in den nächsten Jahren neue Leute brauchen. Schon weil Mitarbeiter wie Mordhorst vor dem Ruhestand stehen. Woher sie aber kommen sollen, ist offen. Denn bei Seeleuten spielt das Herrichten von Leinen in der Ausbildung kaum mehr eine Rolle. Und der Beruf des Taklers wird nicht mehr gelehrt. "Wir brauchen Leute, die auf die Seilerei Lust haben und sich anlernen lassen", sagt der Geschäftsführer. Voraussetzung dafür sind Geschick und Kraft. "Solche Bewerber zu finden", weiß Ahlf, "wird schwierig."

Ähnlich beurteilt er auch die wirtschaftliche Lage. Auch Seldis spürt die Flaute in der Schifffahrt. Denn bei den derzeit niedrigen Fracht- oder Charterraten sparen die Reederein auch bei der Ausrüstung. So werden die schweren, nach der Lieferung 220 Meter langen Hauptfestmacherseile, mit denen das Unternehmen die Hälfte seines Umsatzes erzielt, immer wieder gekürzt statt erneuert. Die abgeschnittenen Schlaufen, die zum Festmachen um die Poller gelegt werden, werden dann an den Seilenden wieder neu eingearbeitet. So lässt sich der Kauf von neuen Seilen aufschieben. "Immerhin kostet ein neues Stahlseil für einen Großfrachter mit 14.000 Containerstellplätzen bis zu 9000 Euro", sagt Ahlf. Die stockende Nachfrage machte sich beim Umsatz des Unternehmens bemerkbar. Er sank 2012 um knapp eine auf sieben Millionen Euro. Ahlf erreichte gerade noch schwarze Zahlen. Im kommenden Jahr, hofft er, sollen die Aufträge jedoch wieder zunehmen.

Dennoch ist der Geschäftsführer sicher, dass er seinen Mitarbeitern auch künftig sichere Jobs bieten kann. "Wir haben uns auf das Auf und Ab in der Schifffahrt eingestellt und sind ein eingeführtes Unternehmen", sagt er. Schließlich führen Ahlf und sein Partner Stephan Weise Seldis bereits in der dritten Generation.

Gegründet wurde die Firma von Rudolf Seldis, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Hamburger Repräsentant für ein Drahtseilwerk in Schlesien tätig war. 1949 machte er sich in der Hansestadt selbstständig und verlegte 1956 die Werkstatt an ihren heutigen Standort. Die Väter der beiden heutigen Inhaber, Egon Ahlf und Eckart Weise, beide Prokuristen bei Seldis, übernahmen das Geschäft in den 1970er-Jahren und gaben es an ihre Söhne weiter. Betriebsbedingte Kündigungen hat es in mehr als 60 Jahren in der Geschichte von Seldis nicht gegeben.

Auf dem Rückweg zu seinem Büro bleibt Ahlf jetzt noch einmal stehen. Sein Mitarbeiter Mordhorst hat ein Stück Stahlseil hervorgeholt. Es gehört zur Ausrüstung des Hochseeschleppers "Nordic", den die Hamburger Reederei Bugsier nördlich der Insel Norderney postiert hat.

Ein halbes Jahr lang haben sie gearbeitet, bis alle Leinen, Strickleitern und Kranseile fertig waren. Das Andenken, das Mordhorst jetzt in der Hand hält, ist ein Stück des dicksten Seils, mit dem im Notfall Havaristen abgeschleppt werden können. Es besteht aus sieben Strängen und misst 80 Millimeter im Durchmesser. Allein das knapp einen Meter lange Stück in der Werkstatt wiegt mehr als fünf Kilo. Selbst bei einer Belastung von 480 Tonnen würde es nicht reißen.