Im Fall des rückfälligen Serientäters Mark S. sprechen Polizei und Politik von Justizskandal. Fehleinschätzung der Justiz?

Hamburg. Hat die Justiz mit zögerlichem Handeln der Vergewaltigung einer 65-Jährigen auf dem Ottensener Friedhof Vorschub geleistet? Im Fall des Serientäters Mark S., der in der vergangenen Woche und nur zehn Tage nach seiner Entlassung aus einer zwölfjährigen Haftstrafe sein sechstes Opfer fand, sprechen Polizei und Politik inzwischen offen von einem Justizskandal. Vieles spricht dafür, dass die Gefahr, die von dem 35-jährigen Mann ausging, nicht bei allen mit dem Fall befassten Instanzen erkannt wurde. Schließlich ermöglichte auch die derzeitige Rechtslage zur nachträglichen Sicherungsverwahrung für die Freilassung des Triebtäters.

Schon im Jahr 2003, als Mark S. wegen Sexualstraftaten zum zweiten Mal vor Gericht stand, hatte es eine im Rückblick wohl fatale Fehleinschätzung gegeben: Ein psychiatrischer Gutachter bescheinigte Mark S., der damals bereits wegen einer Missbrauchstat in Haft saß und im fraglichen Verfahren wegen vier weiterer Vergewaltigungen angeklagt war, keinen Hang zu erheblichen Straftaten. Das Gericht verurteilte ihn unter Einbeziehung der sechseinhalbjährigen Vorstrafe zu zwölf Jahren Haft - verhängte aber aufgrund des Gutachtens keine Sicherungsverwahrung. So wurde Mark S. am 10. Januar nach kompletter Strafverbüßung entlassen. Eine Fallkonferenz, an der Polizei, Staatsanwaltschaft und Mitarbeiter des Strafvollzuges teilnahmen, hatte im Vorwege konstatiert, dass er weiterhin als gefährlich einzustufen sei. Folge: Mark S. erhielt Führungsaufsicht und die Weisung, sich bei einer forensischen Psychiatrie vorzustellen. Eine Fußfessel, mit deren Hilfe sein Aufenthaltsort im Nachhinein jederzeit feststellbar gewesen wäre, lehnte die Strafvollstreckungskammer ab. Die Begründung: Sie sei nicht geeignet präventiv auf den zu Entlassenden einzuwirken.

Und: Obwohl Mark S. nach Einschätzung der Beteiligten weiterhin als gefährlich galt, war die Verhängung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung gar nicht möglich, wie es aus Justizkreisen heißt. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Regelungen im Jahr 2011 für verfassungswidrig erklärt.

Für Empörung sorgte auch ein Haftrichter, der Mark S. in der Nacht der Tat in die Freiheit entließ, obwohl der Modus Operandi der Vergewaltigung exakt seinen früheren Taten glich und sogar ein Spurensuchhund in die Richtung seiner Wohnung gelaufen war. "Ein dringender Tatverdacht wurde hier noch mit der nötigen Sicherheit gesehen", sagt Gerichtssprecherin Ruth Hütteroth. Am Tag darauf lagen erste Faserspuren vor, die belegten, dass Mark S. mit dem Opfer Kontakt hatte. Nun schickte der Haftrichter den mittlerweile geständigen Mark S. in das Untersuchungsgefängnis. Zurück blieb eine Rentnerin, die am Grab ihres Mannes vergewaltigt, bedroht, beraubt und verletzt wurde.

"Das ist ein schwerer Schlag für den Opferschutz. Ich kann die gerichtliche Entscheidung nicht nachvollziehen, weil es eine fachlich begründete Gefährdungseinschätzung gab, die eine hohe Rückfallgefahr sah", sagt Wolfgang Sielaff, Chef der Opferschutzorganisation Weißer Ring. "Die Opferperspektive hat offenbar keine Rolle gespielt."

Joachim Lenders, Chef der Polizeigewerkschaft DPolG sagt: "Die Justiz muss ernsthaft über ihre Fehler nachdenken. Es kann nicht sein, das Richter in einem so schwerwiegenden Fall den gesunden Menschenverstand völlig außer Acht lassen."