Schwarzfahrer schlägt Schaffnerin nieder, verletzt sie auch seelisch. Unter den Folgen leidet sie bis heute - und ist damit nicht allein.

Hamburg. Die Menschen, die an diesem Tag mit der Bahn fahren, tragen Mäntel und Rucksäcke, sie lesen Zeitung, sie lesen ein Buch. Sie hören Musik, vielleicht sind sie auf dem Weg zur Arbeit, vielleicht fahren sie auch zu einem Freund; sie lösen Kreuzworträtsel, sie sind ungeduldig oder lachen. Nur einen gibt es, dem steht der Sinn nach etwas anderem. Einem steht der Sinn nach Gewalt.

Sein Anwalt wird später sagen, dass sein Mandant auf der Suche nach einem Erfolgserlebnis war.

Anja Besing wird später sagen, dass sie dieser Satz fast zur Verzweiflung gebracht hat. Dieser Satz und der Gedanke an einen Tag, an dem das Leben begann, sich nicht mehr leicht anzufühlen.

Anja Besing sitzt in der Kantine des Verlags Axel Springer und kämpft gegen die Tränen. Nicht weil sie gerade die Geschichte des Angriffs erzählt. Das macht sie nüchtern und rasch, fast so, als würde sie noch einmal vor Gericht aussagen. Nein, in diesem Moment sieht sie noch einmal die Fotos. Eine Frau ist darauf zu sehen, ihre Augen sind von blauroten Kreisen umschlossen und komplett zugeschwollen.

Anja Besing tippt auf die Fotos und sagt: "Das bin ich." Anja Besing ist 41 Jahre alt. Seit 21 Jahren arbeitet sie als Fahrgastbetreuerin, so heißt das heute im Angestelltendeutsch der Bahnunternehmen. Sie sagt, dass auch das ein Teil des Problems ist. Früher habe man vor Menschen wie ihr Respekt gehabt, die eine Uniform trugen und einen Knipser am Gürtel, um die gelösten Fahrkarten zu entwerten. Aber das sei lange her.

Ein anderer Teil des Problems ist, dass es inzwischen einfach normal ist, andere Menschen anzupöbeln, ob im Supermarkt, auf dem Amt - oder in der Bahn. Gewalt im öffentlichen Nahverkehr ist ein Thema dieser Zeit geworden, so wie Altersarmut oder der Burn-out; niemand hat sie kommen sehen, aber jetzt sind sie einfach da. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem nicht ein Angestellter der Hamburger Hochbahn angegriffen wird. Allein bei der Deutschen Bahn wurden im vergangenen Jahr 750 Körperverletzungen gemeldet - 80 mehr als im Jahr zuvor.

Die Gewerkschaft der Lokomotivführer schätzt, dass die Dunkelziffer noch viel höher liegt. Hinzu kommen Unfälle: Menschen, die sich auf die Gleise werfen. Die Bahngesellschaften selbst geben kaum Zahlen heraus, sie fürchten um Kunden und die Attraktivität des Zugbegleiterberufs. Denn nicht alle kehren an ihren Arbeitsplatz zurück, wenn sie angegriffen wurden. Auch Anja Besing hat es die Beine weggezogen, für fast ein ganzes Jahr.

Vier junge Männer steigen am Morgen des 21. Mai 2010 in den Metronom von Hamburg nach Bremen, ein Frühpendlerzug, in dem es noch nie zu Problemen gekommen ist. Der Zug verlässt den Bahnhof um Viertel nach fünf, und schon bald merkt Anja Besing, dass da vier Jugendliche vor ihr weglaufen. Metronom-Züge bestehen aus zwei Stockwerken. Während sie die Passagiere unten kontrolliert, laufen die Jugendlichen oben über ihr hinweg. Bis der Zug zu Ende ist. Und es kein Davonlaufen mehr gibt.

Anja Besing fragt die jungen Männer nach ihren Fahrscheinen. Sie haben keine. Einer der Jugendlichen beginnt, Anja Besing zu beschimpfen. Ein junger Mann mit einem Studentenausweis der Uni Bremen sagt, sie solle doch endlich aufhören, nur die Ausländer zu kontrollieren. Schließlich zieht einer der vier seine Hose herunter. Anja Besing sagt ihm, es sei jetzt genug. Er und seine Freunde sollten bitte an der nächsten Station aussteigen und einen klaren Kopf bekommen. Die nächste Station ist Lauenbrück.

Der Zug hält, die vier jungen Männer steigen aus, und bis heute kann sich Anja Besing nicht erklären, wie es kommen konnte - dass sie das wirklich gedacht hat. Denn plötzlich steht einer der vier neben ihr. Der, der eben noch ohne Hose vor ihr stand. Ohne Vorwarnung schlägt er zu. Mit der Faust zielt er direkt auf ihr linkes Auge. Immer wieder, bis Anja Besing aus der Tür fällt, mit der Stirn knallt sie auf den Beton. Und sie hört noch, wie der Lokführer aus seinem Wagen stürzt und ihren Namen ruft: "Anja, Anja!"

Das alles ist jetzt zweieinhalb Jahre her. Seit zwei Jahren arbeitet Anja Besing wieder, am Anfang ist ihr das nicht leichtgefallen. Mit einem Psychologen hat sie monatelang daran gearbeitet, die Folgen der Tat in den Griff zu bekommen. Sie musste lernen, das Haus wieder zu verlassen, in die S-Bahn einzusteigen und durchzuhalten bis zum Ziel. Es überhaupt dort auszuhalten, wo viele Menschen sind. Anja Besing erzählt so ruhig davon, als sei das alles kein Problem gewesen, nur eine Frage der Zeit. Aber das war es nie. In manchen Momenten, sagt Anja Besing, hatte sie gedacht, dass sie nie wieder auf die Beine kommt. Als ihre Augen anfangs nicht mehr abschwollen, hatte sie Angst zu erblinden. Noch heute leidet sie unter Kopfschmerzen. "Der Neurologe sagt: Entweder das ist nach anderthalb Jahren weg oder es wird immer so bleiben. Ja, und damit muss ich jetzt leben."

Opfer von Gewalttaten erleiden in vielen Fällen ein psychisches Trauma. Ein Trauma ist eine Wunde, eine Verletzung der Seele. Sie kann verheilen, aber dafür braucht es Zeit und gute Ärzte. Und Menschen, die sich nicht davor verschließen. Anja Besings Mann Enrico ist so einer; und so wie er an diesem Winternachmittag neben seiner Frau sitzt und immer wieder ihre Hand nimmt, weiß man schnell: Der hat geholfen. "Ja", sagt Anja Besing, "das war ganz wichtig. Wenn ich meinen Mann und meine Familie nicht gehabt hätte ... Es gab Tage, da saß ich einfach nur zu Hause und habe geweint." Enrico Besing sagt, dass das manchmal schwierig war. Weil man sich als Angehöriger in so einem Moment hilflos fühle.

Enrico Besing ist 38 Jahre alt, die Hälfte davon ist er Lokomotivführer. Angegriffen wurde er noch nie, aber wenn man ihn darauf anspricht, dann gibt es auch hier so viele Geschichten zu erzählen, dass diese Zeitungsseite nicht für sie reichen würde. "Klar, da passiert ja ständig etwas", sagt Anja Besing. "Man könnte sagen, fast täglich - wenn man die verbalen Angriffe dazunimmt. Körperliche Angriffe passieren auch oft: dass Kollegen gegen eine Tür geschubst werden, beispielsweise. Männer wie Frauen. Die Hemmschwelle ist in den letzten paar Jahren sehr gesunken. Da ist immer mehr Gewaltpotenzial und Aggression dahinter. Und man kann noch nicht mal sagen, das ist eine bestimmte Gruppe. Das kann die Oma sein, die verbal total entgleist, oder der Typ mit Aktenkoffer und Anzug."

Da war der Kollege, der im Dezember zusammengeschlagen wurde - von einem Familienvater, der auf dem Weihnachtsmarkt einen zu viel getrunken hatte. Im Oktober bekam ein Lokführer am Berliner Tor eine Kopfnuss von einem Fahrgast verpasst - der Kinderwagen seiner Frau war von den Türen eingeklemmt worden, weil die Familie im letzten Moment in den Waggon hetzte. Und dann kommt es natürlich auch immer wieder vor, dass Lokführer Menschen überfahren, die auf Gleise stolpern. Oder die dort sterben wollen.

Die Lokführer sind die wirklichen Opfer dieses Problems. Denn obwohl die Zahl der Selbstmorde seit den 1980er-Jahren sinkt, bleibt die Zahl der "Schienensuizide" stabil. Ihre Zahl schwankt seit Jahrzehnten zwischen 700 und 1000 pro Jahr. In München gab es vor Kurzem eine Untersuchung, die sich mit den psychischen Langzeitfolgen bei 45 U-Bahn-Zugführern befasste, die im Münchner Schienennetz mindestens einen traumatisierenden Personenunfall erlebt hatten. Ein Studienteilnehmer hatte sogar zehn Menschen überfahren. Das Ergebnis: 19 Prozent litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, selbst wenn der Vorfall schon Jahre zurücklag.

Bei Enrico Besing ist der Vorfall jetzt mehr als zehn Jahre her. Es war im Mai 2002 in Winsen, und er sagt, dass er darüber hinweg sei. Auch weil der, der durch ihn starb, wirklich sterben wollte.

"Das ist kein Unfall gewesen, der wollte das", erzählt Besing. "Der hat den Zug gesehen, ich habe ihn gesehen, habe gebremst, da hat er gesehen, dass ich langsamer werde. Und dann fing er an zu rennen. Theoretisch trifft es ja jeden von uns mal. Es gibt welche, die machen eine Kerbe in den Führertisch und fahren weiter. Andere kommen nie wieder. Für die ist der Beruf erledigt, die können nie wieder fahren." Als ihr Mann über die Lebensmüden spricht, schaut Anja Besing ihn lang von der Seite an. Und man selbst beginnt zu denken, dass einem in diesem Moment zwei Menschen gegenübersitzen, die am eigenen Leib das ganze Spektrum des täglichen Bahnwahnsinns erfahren haben.

Anja Besing trägt die blonden Haare offen, ein paar Wochen sind seit dem Gespräch in der Springer-Kantine vergangen. Gleich beginnt ihre Schicht, um 11.15 Uhr fährt sie von Hamburg nach Bremen und dann immer hin und her, bis 21.43 Uhr, dann hat sie Feierabend.

Der Zug nach Bremen ist gut gefüllt, und Anja Besing ist freundlich, sie schaut die Passagiere an, die ihr das Ticket entgegenhalten, sie wünscht ihnen ein gute Fahrt. Manchmal fallen ihr dabei die Haare ins Gesicht. Dann lächeln auch die Menschen im Zug. In Lauenbrück schaut Anja Besing nicht einmal aus dem Fenster.

Sechs Monate hat eine Frau gebraucht, um wieder ins Leben zurückzufinden, und manchmal ist es einfach wichtig, so eine Geschichte zu erzählen. Anja Besing sagt, dass sie ihre Angst überwunden habe. Nur ab und zu bekommt sie ein inneres Flattern, aber auch das werde immer weniger.

Der heute 23-Jährige, der sie 2010 im Zug nach Bremen attackiert hatte, wurde vom Amtsgericht Bremen zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Der Student, der sich an dem Morgen in die Auseinandersetzung eingemischt hatte, blieb bis zum Ende der Verhandlung verschollen. Die Auszubildende, die mit Anja Besing gemeinsam "auf dem Zug" nach Bremen war, kündigte wenige Tage später ihren Vertrag. Sie entschied sich, einen anderen Beruf zu lernen.