Hamburger half 1943 französischen Zwangsarbeitern zu flüchten. Altona gedenkt der Landsleute, die im Lager starben.

Altona-Altstadt. Dies ist eine Geschichte von Zerstörung, Elend und Erniedrigung, aber ebenso ein Beispiel für Menschlichkeit auch in gnadenlosen Zeiten. In einer Feierstunde wird am Sonntag dessen gedacht - im Guten wie im Schlechten. Die Hauptrollen in einem Jahrzehnte unbekannten Stück Hamburger Geschichte spielen ein hanseatischer Unternehmer mit Courage und zwei nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter aus dem Département Vendée im Westen Frankreichs.

Es ist der 28. Juli 1943, ein Mittwoch mit schwülwarmer Witterung. Die Operation "Gomorrha" der Alliierten ist in vollem Gange; der Hafen und andere Stadtteile sind zerstört. Hamburg liegt am Boden. Louis Deslandes und Jacques Vatel sind der Feuersbrunst im Zwangsarbeiterlager an der Norderstraße - der heutigen Virchowstraße - entkommen und wandern aus dem zerstörten Altona Richtung Westen. Hinter ihnen liegen Ruinen, tote Kameraden und Albträume.

Bevor die Bomben explodierten, mussten sie Frachter entladen und auf einer Werft Rost klopfen. Beide sind Anfang 20 und hoffen in den ländlichen Elbvororten auf relative Sicherheit und etwas Essen. Sie sind ausgehungert und verletzt: Brandwunden, verrußte Gesichter, versengte Haare, Prellungen, notdürftige Verbände, keine Perspektive. Zwar finden sie in einer Ruine eine Konservendose, doch hätte der Verzehr wegen "Plünderung" die sofortige Exekution bedeuten können. Angst ist allgegenwärtig. An der Baron-Voght-Straße, in Höhe der Flottbeker Schmiede, stoppt ein Mercedes-Dienstwagen des Luftschutzes. Der Fahrer, ein Hamburger namens Hans L. Reineke, bietet den armseligen Gestalten Hilfe an. Als er bemerkt, dass es sich um Franzosen handelt, kommt man ins Gespräch.

Reineke ist gebildet, spricht Französisch. An der Spaldingstraße führt er die noch heute bestehende Firma Weill & Reineke, einen mittelständischen Betrieb für Kältedichtungen mit einem Dutzend Mitarbeiter. Vor allem jedoch ist Reineke Mensch. Zu Hause an der Parkstraße in Othmarschen versorgt er gemeinsam mit Ehefrau Lotte die beiden Zwangsarbeiter. Es gibt frische Verbände, Medikamente, endlich Essen und Trinken, aber auch Zuspruch. Durch seine Führungsposition beim Luftschutz besorgt Reineke eine Unterkunft in der Nähe. Von neuem Mut beseelt, wollen die beiden Richtung Heimat fliehen. Ihr Retter stattet sie mit einem abgestempelten Schriftstück und Zugfahrkarten aus. Ihnen droht wegen Desertierens die Todesstrafe. Die Rückkehr in die Heimat, von der Gestapo unterbrochen, gerät zur Odyssee, auf der ein mutiger Polizeioffizier in Bremen und die in diesem Fall unbürokratische Personalabteilung der Bayer-Werke in Leverkusen rühmliche Rollen spielen. Kriegsende und Befreiung erleben die beiden Zwangsarbeiter im französischen Untergrund.

Dass diese Episode einer großen Hilfestellung in grausamen Zeiten überhaupt publik wurde, hat zwei Gründe. 2004 schrieb Louis Deslandes ein Buch über seine Erlebnisse: "Nuit d'enfer à Hambourg", die "Höllennacht in Hamburg". Im März 2011 schickte er einen Brief an Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) mit der Bitte, an das Schicksal der Zwangsarbeiter zu erinnern und die toten Leidensgenossen im Gedächtnis zu behalten. Dank aller möglichen Behörden, einer Arbeitsgruppe der Bezirksversammlung Altona und des Stadtteilarchivs Ottensen wurde ein unbekanntes Geschichtskapitel mühsam recherchiert.

Vor einem Jahr gab es eine erste Gedenkveranstaltung. "Der heute 90 Jahre alte und nicht mehr reisefähige Louis Deslandes war mit einer ergreifenden Videobotschaft präsent", sagt Andreas Grutzeck (CDU), stellvertretender Vorsitzender der Bezirksversammlung. Anlass für eine zweite Gedenkfeier an diesem Sonntag um 12 Uhr im Technischen Rathaus an der Jessenstraße sind eine Gedenktafel und 13 Stolpersteine für die während der Bombennächte im Lager Norderstraße getöteten französischen Zwangsarbeiter aus dem Département Vendée. Deren Nachfahren kommen zu Wort sowie Bezirksamtsleiter Jürgen Warmke-Rose und Frankreichs Generalkonsulin Sylvie Massière. Die Veranstaltung ist öffentlich.

Mit dabei sind dann auch Jan und Sielke Reineke, Sohn und Schwiegertochter des 1968 verstorbenen Retters Hans L. Reineke. Von seiner Hilfsaktion vor knapp 70 Jahren hatte dieser nie gesprochen - wie ganz allgemein über die Schreckensjahre vor und während des Zweiten Weltkriegs nicht. Erst durch das Buch und den Brief ins Rathaus aus Frankreich erfuhr das Ehepaar von den Geschehnissen damals.

"Da ist uns erst bewusst geworden, was sich in unmittelbarer Nachbarschaft ereignet hat", sagt Sielke Reineke in ihrer Wohnung in der Parkstraße. Es ist das Haus, in dem die beiden Franzosen Gastfreundschaft genossen. "Erst durch unsere Recherchen haben wir erfahren, dass zwischen Königstraße und Großer Bergstraße ein Lager für Strafgefangene war." Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe des Bezirksamts und trug mit Gaby von Malottki vom Stadtteilarchiv Ottensen und weiteren Mitstreitern erheblich zur Aufklärung bei.

Warum sein Vater nie über den Vorfall vom 28. Juli 1943 und den Tagen danach sprach, kann sich Jan Reineke nicht erklären. Der 73-jährige Hamburger führte den Betrieb fort, in dem heute Tochter Tanja aktiv ist. Als sein Vater vor 44 Jahren starb, nahm dieser die Erinnerung an sein Eingreifen während der Operation "Gomorrha" mit ins Grab. Gemeinsam mit seiner Frau reiste Jan Reineke in die Vendée, um Louis Deslandes zu besuchen. Es war ein rührendes Treffen von Menschen, die sich nicht kannten und die doch so viel verbindet. Daraus entstand eine ganz persönliche französisch-deutsche Freundschaft, die Mut macht.