Auch mit 60 oder 70 sind viele Fachkräfte für den Arbeitsmarkt noch unverzichtbar

Zu den seltsamsten Phänomenen unserer Arbeits- und Weltwirtschaftswelt gehört die Fokussierung auf die Jugend: Wie erreichen wir junge Leute? Woher soll der Nachwuchs für unsere Firma, unsere Produkte kommen? Was will die werberelevante Zielgruppe, aus der jeder ausscheidet, der älter als 49 ist? Darauf war und ist seit Jahrzehnten das Streben von Marketing- und Personalexperten ausgerichtet, fast so, als gäbe es jenseits der 50 niemanden mehr, der etwas wert sein könnte, ob nun als Kunde oder Mitarbeiter. Was für eine verzerrte Wahrnehmung in einem Land, in dem die Menschen erst mit 67 in den Ruhestand gehen sollen, in dem die Lebenserwartung steigt und in dem die 70-Jährigen heute die 60-Jährigen von früher sind.

Oft ist gefordert worden, sich nicht nur auf die Jugend zu fixieren, aber erst jetzt tut sich etwas. Firmen sind angesichts geburtenschwacher Jahrgänge, die nach und nach in Ausbildungen und Berufe drängen, gezwungen, sich stärker den sogenannten Älteren zuzuwenden. Ein Glück!

Man muss nicht so weit gehen wie eine in Ehren ergraute Führungskraft, die, auf ihre Kriterien bei der Auswahl von Angestellten angesprochen, trocken sagte: "Lieber altes Eisen als junges Blech." Aber grundsätzlich ist es richtig und wunderbar, dass wir in diesem Land erkennen, wie wertvoll erfahrene Arbeitnehmer, wie unverzichtbar Fachkräfte mit 50 oder 60 oder meinetwegen auch 70 Jahren für unsere Wirtschaft sind.

Nur diese Erkenntnis hilft auch auf dem Weg, den uns zumindest das gesetzliche Renteneintrittsalter vorschreibt. Wenn wir eine Gesellschaft wollen, und eine Alternative ist schon demografisch nicht vorhanden, in der bis 67 gearbeitet wird, dann muss es normal werden, dass 50- und 60-Jährige genauso ihre Jobs wechseln, genauso einen neuen Arbeitsplatz finden wie 30- oder 40-Jährige. Auf Augenhöhe dürften sie so oder so sein: Jugendlichkeit ist zumindest per se kein Wert an sich, es gibt Menschen, die sind schon mit Mitte 30 so alt, wie es andere mit 70 nicht sein werden.

Überhaupt ist es höchste Zeit, und da machen die neuen Zahlen aus Hamburg Mut, das Verhältnis von Alter und Arbeit zu entmystifizieren. Es gibt Menschen, die froh sind, mit 55 in den Ruhestand gehen zu können, um sich anderen Dingen als dem Job zu widmen. Es gibt aber genauso gut Menschen, die sich nicht von einer rein rechnerisch festgelegten Grenze vorschreiben lassen wollen, wann sie mit dem Arbeiten aufzuhören haben. Wenn ein Arzt mit 68 weiter praktizieren will, warum denn bitte schön nicht? Wenn er in seinem beruflichen Alltag jene Befriedigung findet, die er anderswo nicht erreichen kann - dann lasst ihn doch! Es ist eine Mär, dass Menschen, die lange und viel arbeiten, unglücklicher sind als andere. Es kommt jeweils auf den Menschen an.

Und wer behauptet, im Alter könne man nicht noch mal Karriere machen, ignoriert die Realität. In diesem Land ist es, und auch das ist sehr gut so, immerhin möglich, mit 72 Jahren noch eine Spitzenposition mit einem Fünfjahresvertrag und einem Arbeitspensum zu übernehmen, das auch für 40- oder 50-Jährige eine Anstrengung wäre. Joachim Gauck hat genau das getan, und er wirkt nicht so, als sei er als Bundespräsident überfordert oder unglücklich. Von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Bücher schreibt wie andere Leitartikel, ganz zu schweigen ...

Arbeit ist eben kein Lebensabschnitt. Arbeit ist Leben. Und umgekehrt.