Alle Welt redet vom Zeitungssterben. Doch Journalismus ist nicht vom Papier abhängig. Zeitung kann auch digital zum Leser kommen.

Edmund Stoiber erzählt von einem kurios-traumatischen Erlebnis: Er saß mit seiner Enkeltochter am Frühstückstisch, neben der Kaffeetasse lag die "Süddeutsche Zeitung". Die Enkelin schaute begeistert auf das Foto der Seite 1, tippte mit dem Finger dreimal drauf und sagte dann enttäuscht: "Opa, kaputt!"

Sie dachte, mit dem Foto müsse doch irgendwas passieren, wenn man es berührt. Wie eben auf einem Tablet-Computer. Größer werden oder sich mit einer neuen Seite verlinken. Sie verstand nicht, dass ein Foto manchmal nichts anderes kann, als einfach nur gedruckt zu sein. Und ihr Großvater schloss daraus: Der Zeitungsjournalismus hat bei jungen Generationen einen schweren Stand.

Die Totengräber fühlen sich bestätigt

Vordergründig passen die Nachrichten der letzten Tage ins Bild: Mit der "Frankfurter Rundschau" hat ein Traditionsblatt Insolvenz angemeldet, mit der "Financial Times Deutschland" wird eines der spannendsten Zeitungsprojekte der letzten zehn Jahre wohl eingestellt. Das Wort "Zeitungssterben" geistert durch die Branche, und all jene professionellen Auguren und Totengräber fühlen sich bestätigt, die es immer schon gewusst haben wollen, dass die Zeitung keine Zukunft hat.

So weit, so traurig. Zumal meist ausgerechnet Zeitungsjournalisten die sich selbst erfüllende Prophezeiung verbreiten. Das ist ungefähr so, als wenn im "heute journal" ständig darüber berichtet würde, dass die Überalterung der ZDF-Zuschauer ein sicherer Vorbote für den baldigen Untergang des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist.

Steht der Zeitungsjournalismus wirklich vor seinem baldigen Ende? Oder ist die Pointe von Edmund Stoibers Geschichte eine ganz andere? Das Verhalten des Kindes zeigt, dass Papier als Trägermedium für Medieninhalte durch neue Technologien herausgefordert ist, dass Print als Vertriebskanal langfristig eine schwierige Perspektive hat. Vor allem aber zeigt es, dass Zeitungsjournalismus das Beste noch vor sich hat.

Gute Zeiten für gute Zeitungen

Instinktiv hat das kleine Mädchen nämlich begriffen, welches Potenzial für Journalisten und Blattmacher in den Neuen Medien steckt - ein Potenzial, das die gedruckte Zeitung nicht einmal annähernd ausschöpft: Interaktivität, sekundenschnelle Aktualisierung, Verknüpfung von Informationen und Stichworten, unbegrenzter Platz, die Verschmelzung verschiedenster medialer Stile und Ästhetiken. Gute Zeiten für Journalisten, die etwas zu sagen haben.

Was ist eine Zeitung? Im Mittelhochdeutschen bedeutet Zeitung Neuigkeit. "Hat er gute Zeitung?" hieß: "Hat er gute Nachrichten?" Eine Zeitung ist: gute, also gut erzählte, kritisch recherchierte Nachricht, Neuigkeit, Einordnung des Geschehens durch professionelle Journalisten. Eindringliche Sprache. Kuratierte Inhalte mit klarem Absender, der für die Richtigkeit des Geschriebenen Verantwortung übernimmt. Das ist Zeitung. Und diese Zeitung kann heute - glücklicherweise - nicht nur analog, also auf Papier, sondern auch digital, also auf elektronischem Papier, einem Computer, Tablet oder Mobiltelefon, zum Leser kommen. Gute Zeiten für Verleger, die Wachstum gestalten wollen.

Der Geist bestimmt die Materie

Wer diese Entwicklungen beklagt, hat die Chance nicht begriffen, die in diesem technologischen Wandel liegt. Papier hat viele Vorteile und wird deshalb noch länger bestehen und von Lesern bevorzugt werden, als viele Zeitgeist-Gurus heute denken. Aber die Zukunft des Journalismus von digitalen Informationsträgern abzukoppeln, wäre ein törichtes Missverständnis. Journalismus ist doch nicht vom Trägermedium, vom Papier allein abhängig.

Der Geist bestimmt die Materie und nicht umgekehrt. Das Problem aber ist: Zu viele Verleger und Journalisten sind verunsichert und richten deshalb Schaden an. Auf Podien und in Interviews wird verbissen das Papier verteidigt oder der Untergang des Qualitätsjournalismus im bösen Internet beklagt. Man sägt so an dem Ast, auf dem man sitzt. Selbstmord aus Angst vor dem Sterben.

Kein Leserbrief ersetzt den Leitartikel

Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Aber wer dem Zeitgeist nach dem Mund redet, lebt ebenfalls gefährlich. Vom Wandel Verunsicherte singen das Hohelied vom User-generated Content, der eines Tages den Profijournalismus ersetze. Der Nutzer mache alles selber, wisse alles besser, und er werde irgendwann den Journalisten, der dafür ausgebildet worden ist, überflüssig machen. Was für ein Unsinn! User-generated Content ist großartig, eine wunderbare Ergänzung unserer journalistischen Angebote - natürlich gibt es Schwarmintelligenz. Aber es gibt eben auch Schwarmdummheit. Und beides ist kein Ersatz für Journalismus.

Das wäre so, als wenn man sagen würde: Ein Leserbrief ersetzt den Leitartikel. Das tut er eben nicht, er ergänzt ihn nur auf wunderbare Weise. Und wenn man auf die Ursprünge des Journalismus blickt, etwa die von Johann Carolus in Straßburg vor mehr als 400 Jahren herausgegebene erste Zeitung, dann handelte es sich im Wesentlichen auch um User-generated Content. Die Zeitung hat sich dann im Laufe der Zeit professionalisiert. Und genau so wird es auch in der digitalen Welt sein.

Guter Journalismus hat seinen Preis

Eine weitere aus der Unsicherheit geborene Dummheit ist die Propaganda der Kostenlos-Kultur. Nach der Ideologie des spät gekommenen Webkommunismus existiert eine freie Welt nur, wenn jede Information für jedermann jederzeit frei, also kostenlos, zugänglich sei. Schwer verständlich, warum Brot oder Medizin dann etwas kosten sollten, obwohl Brot oder Medizin sicher noch lebensnotwendiger sind als gute Zeitungen beziehungsweise Blogs im Netz. Unabhängig recherchierter Journalismus hat seinen Preis und seinen Wert.

Deswegen brauchen digitale Zeitungen so wie analoge Zeitungen Bezahlmodelle. Nur wenn Qualitätsjournalismus in der digitalen Welt ein Geschäftsmodell ist, wird es künftig einen Markt und keine politisch gesteuerte Staatspresse geben. Die ersten fürsorglich wirkenden Vorschläge für Stiftungen zur Erhaltung von Qualitätsjournalismus gibt es schon. Aus Sicht der Leser ein Albtraum. Nur der Markt ermöglicht Wettbewerb, Vielfalt und Unabhängigkeit.

Eine gute Geschichte bleibt eine gute Geschichte

Technologie wandelt sich viel schneller, als wir glauben - vielleicht ist es wirklich so, dass die Zeitung der Zukunft eines Tages wieder aussieht wie ein Blatt Papier. Elektronisches Papier. Das kann man falten, rollen, in die Tasche stecken. Und durch einen Fingertipp ganze Zeitungen und Zeitschriften abrufen und lesen.

Die Technologie ändert sich radikal. Aber das, was die Menschen lesen wollen, was sie wirklich interessiert, das ändert sich viel langsamer, als wir glauben. Zeitungsjournalismus hat das Beste noch vor sich. Eine gute Geschichte bleibt eine gute Geschichte. Und wenn dann Edmund Stoibers Enkelin künftig auch noch die Fotos anklicken kann - umso besser.