Mit 15 trug Oliver Knöbel zum ersten Mal die Pumps seiner Mutter. Heute ist er als Dragqueen Olivia Jones eine der beliebtesten Hamburger Sehenswürdigkeiten. Maike Schiller hat sie an einem langen Arbeitstag begleitet.

Keine Frage, Oma Käthchen aus Köln ist selig. Sie hat die Barkassentour auf der "Hamburger Deern" zum 80. Geburtstag geschenkt bekommen, jetzt sitzt sie, frisch onduliert, neben einem älteren Herrn mit Videokamera, den sie beharrlich "meinen Lover" nennt, versorgt ihn mit Regieanweisungen ("Dat is ene reelle Dampfer, dat kannste filme!") und wird dabei von einem Zwei-Meter-Kerl in Frauenkleidern und roten Lackstiefeln, Größe 45, inbrünstig an die falschen Brüste gedrückt. "Wo oben die Gletscher leuchten, kann ja im Tal noch Frühling sein!", tönt der fachmännisch Aufgerüschte zur Freude der johlenden übrigen Anwesenden unter seiner pinkfarbenen Perücke hervor, tätschelt Oma Käthchens eifrig filmendem Begleiter die Glatze und hält ihr fürsorglich den nächsten Genever unter die Nase. "Mensch, isch han immer für Se jeschwärmt", ruft Oma Käthchen und kippt brav ihren Schnaps. "Isch hätt' nie jedaach, dat isch Se ma in natura seh!"

Ja, was halt so "natura" ist in dieser Branche.

Es ist Sonnabendnachmittag, die auf den letzten Platz ausgebuchte Barkasse schippert unter dem Titel "Olivia Ahoi" vorbei an den Containerriesen, und Oliver Knöbel, der seinen Beruf mit "Multifunktionstranse" angibt, tut das, was ihn zu einer der beliebtesten Hamburger Sehenswürdigkeiten gemacht hat: Er lässt sich fotografieren. In Berufskleidung, versteht sich: eine zum Minikleidchen umgeschneiderte Hamburg-Flagge, eine passende Tasche in Herzform, die roten Lackstiefel in Endlosbeinen und um den Hals ein Schleifchen mit Glitzer-Totenkopf. Oliver Knöbel ist Olivia Jones , Deutschlands bekannteste Dragqueen. Die Mutti aller Fummeltrienen. Die Königin des Trash.

Seit Jahren stöckelt sie sich unbeirrt über die roten Teppiche der Partyrepublik Deutschland in eine erfolgreiche Klatschspalten-Existenz - und hat das eigene Potenzial längst zur überregional erfolgreichen Marke ausgebaut. In Hamburg gibt es eine Olivia-Jones-Bar auf der Großen Freiheit, jeden Sonnabend Olivia-Jones-Hafenrundfahrten, Olivia-Jones-Kiez-Safaris und sogar Lebkuchenherzen mit ihrem Konterfei. Was Jörg Pilawa für die ARD ist und Guido Westerwelle in den Talkshowsesseln der Nation gern wäre, ist sie für die Abteilung Glitzer und Glamour: so omnipräsent wie unverzichtbar. Längst ist diese Multifunktionstranse - 1997 in Miami zur "Miss Drag Queen Of The World" gewählt - Teil der Medienöffentlichkeit, kaum ein Politiker hat sich noch nicht mit Olivia Jones ablichten lassen. Der Bundespräsident, die Kanzlerin, Bürgermeister und Ministerpräsidenten. Es ist eine klassische Win-win-Situation: Die Anzugträger simulieren Toleranz und Humor, Olivia Jones wandelt Präsenz in Prominenz. Nur Edmund Stoiber habe sich bislang geweigert, mit ihr zu posieren. "Aber mal ehrlich", sagt Olivia Jones, klimpert mit den falschen Wimpern und nippt an ihrem Kaffee, sodass eine pinkfarbene Lippenstiftspur am Tassenrand zurückbleibt. "Für Politiker ist es doch inzwischen ganz cool, ein bisschen schwul zu sein! Da hat sich in den letzten 20 Jahren richtig was getan."

Seit seinem 16. Lebensjahr trägt Oliver Knöbel, aufgewachsen im schon damals nur bedingt weltoffenen Springe bei Hannover, leidenschaftlich gern Frauenkleider. "Ganz klassisch" habe das angefangen, "mit den Pumps von Mama". Das konservative "Ich bin schwul"-Outing haben die Eltern vergleichsweise entspannt hingenommen. "Das fanden die nicht schlimm. Schlimm fanden sie nur, dass ich halt auch im Fummel zur Schule gegangen bin." Mama Evelin musste damals gelegentlich beim Rektor vorsprechen - andere Eltern hatten sich beschwert. "Die hatten wahrscheinlich Angst, dass das ansteckend ist oder so", grinst Olivia und verdreht die Augen. Ihre Mitschüler dagegen sahen es gelassen: "Ich war total beliebt, für die war ich einfach ein schrilles Huhn. Die haben mich ,Mausi' genannt!" Es kam vor, dass Oliver nachts in Schwulenbars auftrat, "damals noch auf Bierkisten, über die jemand ein Stück Samt gelegt hatte", und morgens direkt zur Schule ging. Zeit zum Umziehen blieb da nicht. Selbst zur Bundeswehr-Musterung schickte Oliver Olivia. In Frauenkleidern. "Das war ein echt schickes Outfit!" Ausgemustert wurde er trotzdem.

Olivia spricht rasant, bloß nicht zu lange bei einem Thema bleiben, schnell noch einen Schluck Kaffee. "Habt ihr Spaß, ihr Wassermäuse?" An Bord der "Hamburger Deern" fliegen inzwischen die Löcher aus dem Käse, ein Junggesellinnen-Abschied aus dem Allgäu (alle im Dirndl), ein Betriebsausflug vom TÜV und Oma Käthchen mit ihrem "Lover" klatschen im Takt. "Das hebt die Stimmung, ja, da kommt Freude auf!"

Natürlich sei es vorgekommen und passiere auch heute noch gelegentlich, dass "irgendwelche Idioten" sie beschimpfen, sagt Olivia und zuckt mit den Schultern. ",Schwule Sau' ist da noch das Netteste. Das sind dann gern Rechtsradikale oder Jugendliche, die in ihrer eigenen Sexualität noch nicht so gefestigt sind." Diese Verunsicherung wiederum nutzt sie, der Verblüffungsmoment ist Teil der Show. Für die NDR-Satiresendung "Extra 3" sorgte sich Olivia Jones vor einiger Zeit im Krankenschwestern-Dress "um den Gesundheits- und Geisteszustand von Roland Koch" - der reagierte zwar sichtlich genervt, war aber vollkommen machtlos gegen ihren unnachahmlich unschuldigen Brachialcharme. Auch Olivias Besuch einer NPD-Wahlkampfveranstaltung in Niedersachsen ist längst ein "YouTube"-Renner: "Hallihallo, hier ist ja eine Mörderstimmung!", flötet sie da, passend angereichert um ein Paar blonde BDM-Zöpfe, und hält das Mikrofon dann einem Parteitagsgast vor die Nase. "Ja", entgegnet der bloß verstört.

"Es ist ja erstaunlich, was ab einem gewissen Prominenzgrad so alles geht", findet Olivia Jones. Auch was in Springe früher peinlich war, hat sich längst durchgesetzt: Olivias Mutter sitzt heute mit den Nachbarinnen vor dem Fernseher, wenn Olivia beim "Perfekten Promi-Dinner" auftritt, und freut sich, "Sohn und Tochter zugleich" zu haben.

Was überwiegt? "Hälfte, Hälfte", sagt Olivia Jones, die sich ungeschminkt nach Möglichkeit nicht mehr fotografieren lässt. "Wobei ich als Oliver ja meistens auch in Olivias Diensten stehe. Bloß erkennt mich dann kein Mensch. Nicht mal die Nachbarn! Ich führe ein Super-Doppelleben." Rund 100 Kostüme hängen in der extra zur Verwandlung angeschafften Einliegerwohnung unter Olivers eigentlicher 110-Quadratmeter-Bleibe. "Wie bei Cinderella für Arme" sehe es dort aus, sagt sie und balanciert eine weitere Runde süßen roten Schnaps durch den Barkassen-Mittelgang.

Die Konsequenz bleibt nicht aus: Allgemeine Schunkelverbrüderung auf Höhe von Oevelgönne. "Die Leute sind bei Olivia viel lustiger als auf einer normalen Barkassenfahrt", hat Bord-Kellnerin Doris festgestellt. "Sonst sagen die oft nicht mal Guten Tag." Nur die Allgäuer Braut in spe, von ihren Freundinnen zum Beweisfoto mit Großstadt-Transe vor die Kamera geschubst, wirkt von dem ganzen Trubel etwas überfordert. Zum Lockermachen noch einen kleinen Genever? "Nee", flüstert ihre Sitznachbarin, die eine Schärpe über dem Dirndl als "Trauzeugin" ausweist, verschwörerisch: "Schwanger!" Olivia Jones verschwindet kurz auf dem Herrenklo. Nachschminken. Man wird ja auch nicht jünger. In diesem Jahr steht ihr 40. Geburtstag an. Angst macht ihr das nicht: "Nö, warum denn? Da muss man sich doch nur mal Lilo Wanders oder Dame Edna angucken - das kann man prima noch mit 150 machen! Oder ich geh ins Dschungelcamp. Wie man an Ingrid van Bergen sieht, ist das eine prima Aufgabe für eine alternde Transe."

Zack. Wer Diva sein will, muss auch Zicke sein können. Umso überraschender, wie herzlich Olivia Jones sich ihren Fans widmet: Jedem, der auch nur aus der Ferne ihren Namen gröhlt, wird fröhlich zugewunken, hier schnell noch ein gemeinsames Foto, da eine Unterschrift, ein Wort, ein Spruch. Selten ein Nein. Der Kundenkontakt scheint ihr aufrichtig Spaß zu machen.

Die nächste Gruppe wartet schon am U-Bahnhof St. Pauli: 18 Uhr, "Olivias Safari", der erste von zwei geführten Kiezgängen. Die Teilnehmer, darunter ein Sparklub aus der Pfalz und eine Geburtstagsrunde aus Stade, tragen Aufkleber mit dem Schriftzug "Großwildjäger auf Tour". Ihre "süßen Wassermäuse" hat Olivia Jones, mit Lebkuchenherzen versorgt, an den Landungsbrücken zurückgelassen. Jetzt steht das "Naherholungsgebiet" St. Pauli auf dem Programm, insbesondere - erstes verschämtes Kichern in der Runde - die "Wellness- und Freizeitangebote für die Herren". "Na, ihr Mäuse, braucht jemand einen Einkaufswagen?" Strammen Schrittes geht es durch das Kabinenwirrwarr eines Sexshops, der Pfälzer Sparklub wird übermütig: "Jürgen, soll ich dir 'ne ,Pussy to go' spendieren?" Als die Herren durch die Herbertstraße marschieren (O-Ton Olivia: "Der Kinderhort für Papis"), führt die resolute Reiseführerin die Damen zur "lesbischen Butterfahrt außenrum".

Distanz ist ein Begriff, der im Koordinatensystem von Olivia Jones wenig Raum findet. Sie wird nicht nur angesprochen, sondern auch angefasst. "Na, die Rattenfängerin vom Kiez?", lallt ihr ein stiernackiger Eingeborener entgegen. "Nee, Wattwanderung", kontert Olivia und erklärt der Gruppe noch rasch den lokalen Fachbegriff "Reste-ficken" - soll keiner sagen, er habe hier nichts gelernt. Ihre leere Wasserflasche schenkt sie einem Obdachlosen, der über sein Lager einen Zettel an die Hauswand geklebt hat: "Leergutannahme hier". So geht St. Pauli.

Nach der ersten Kiez-Safari folgt die zweite Tour, wieder 40 Mitläufer, anschließend Promotion für eine Karaoke-Software, Dreharbeiten, Charity, Fototermine, Präsenzpflicht in der Bar - die ganze Nacht, das ganze Wochenende, der Terminkalender ist voll. Zweimal im Jahr entflieht sie. Oder besser: Er. In den Urlaub fährt Oliver allein. Im Sommer nach Spanien, im Winter auf die Malediven, zur Ayurveda-Kur: "Entgiften."

Auf der Großen Freiheit schleicht sich Olivia zur kurzen Viertelstundenpause in die noch leere Nachbarkneipe. Sie sitzt an einem der hinteren Tische, außer Sichtweite. Wird sie entdeckt, ist sie Allgemeingut. Bei aller Aufgedrehtheit hat der Moment etwas Rührendes. Von nebenan wehen die ersten Takte eines DJ-Ötzi-Schlagers durch die Straße, draußen zieht das übliche Sonnabendnacht-Partyvolk vorbei. Olivia strubbelt sich die Perücke zurecht, kramt eine Banane aus der Tasche und schält sich eine mitgebrachte Stulle aus der Alufolie. Selbst geschmiert.