2035 endet die Bestandsgarantie. Hafenerweiterung, Schlickdeponie, Ausbau der A 26 - kaum einem Ort dürfte je mehr zugemutet worden sein.

Moorburg. Schärfer können Kontraste kaum sein. Auf der einen Seite der alte Ortskern von Moorburg mit der 1597 erbauten St.-Maria-Magdalena-Kirche mittendrin. Auf der anderen Seite das neue Kohlekraftwerk von Vattenfall, ein bombastischer Industriebau. Die Schornsteine sind so hoch, dass man den kleinen Ort hinterm Deich schon ein gutes Stück durchschreiten muss, um sie nicht mehr zu sehen. Ganz entfernt erinnert die Silhouette des Kraftwerks an jene trutzige Moorburg, die Hamburg 1390 errichten ließ, um den Schiffsverkehr auf der Süderelbe zu kontrollieren. Ein wichtiger Vorposten, der Zölle eintrieb, die große Stadt am anderen Ufer indes auch vor ungebetenen Gästen schützte.

Das Bollwerk ist längst geschleift, nun aber als stilisiertes Mahnmal wiederauferstanden. Auf schwarz-weißen Schildern begegnet es einem hundertfach in ganz Moorburg. Eine stille Anklage ohne jeden Slogan. Es sind einfach zu viele Themen, die den 725 Einwohnern auf der Seele brennen: das Kraftwerk, giftiger Hafenschlick, der geplante Ausbau der Autobahn 26, die beständig drohende Hafenerweiterung - mehr dürfte die Hamburger Politik einem Stadtteil nie zugemutet haben. Und nun soll Moorburg ab 1. Dezember auch noch zum dauerhaften Domizil für ehemals Sicherungsverwahrte werden.

Die Angst davor steht Christina von Bargen ins Gesicht geschrieben. Die 45-Jährige ist Mutter zweier Töchtern. Seit sie weiß, dass zu den potenziellen Bewohnern auch verurteilte Sexualstraftäter zählen, ist die innere Ruhe dahin. "Dieses ungute Gefühl will nicht mehr weichen", sagt sie, die ganze Lebensplanung sei über den Haufen geworfen. Das Gebäude, in dem die aus der Haft entlassenen Männer leben sollen, liegt keine 200 Schritte vom Haus der Familie entfernt. Christina von Bargen hat das selbst ausgezählt.

Vor 15 Jahren haben sie und ihr Mann Bernd, 50, das alte Bauernhaus von dessen Eltern übernommen. Seitdem sind praktisch alle Ersparnisse in den Umbau geflossen. "Es ist unsere Altersvorsorge, es sollte unser Alterssitz werden", sagt Christina von Bargen. Doch unter diesen Umständen sei das ausgeschlossen. Elisa, 12, die ältere Tochter, müsse auf dem Weg zur Schule jeden Tag an dem Haus "mit diesen Männern" vorbei. Und für Jette, 9, die jüngere Tochter, gelte bald dasselbe, wenn auch sie aufs Gymnasium Süderelbe wechseln werde. "Das wollen, das können wir den Mädchen nicht zumuten, dieser Gedanke ist unerträglich", sagt Christina von Bargen. Zumal der Prozess der Ausgrenzung bereits begonnen habe: "Früher durften Freundinnen unsere Töchter immer wieder hier übernachtet. Das werde es in Zukunft nicht mehr geben, hörten wir schon jetzt von einigen Eltern." Die von Bargens haben einen Anwalt eingeschaltet, fordern von der Stadt eine andere Wohnung. Das Ansinnen hatte der Senat anfangs kategorisch zurückgewiesen, prüft inzwischen jedoch eine "organisatorische Unterstützung beim Umzug".

So einfach wird sich das Problem im Fall Babett Kräkel kaum lösen lassen. Die 46-Jährige betreibt den Reiterhof Kunterbunte Pferde, nur einen Steinwurf vom Haus der von Bargens entfernt. In den Stallungen finden bis zu 30 Tiere Platz. Bisher waren die Boxen zumeist ausgebucht. Auch deshalb, weil Babett Kräkel vor fünf Jahren rund 300 000 Euro in den Neubau einer Reithalle investierte. Nun aber ist die Kundschaft in Aufruhr.

"Zwei Kündigungen liegen bereits auf dem Tisch, eine weitere ist avisiert", berichtet Babett Kräkel. Reiten sei ja nicht gerade ein billiges Vergnügen. Weshalb sich die entsprechende Klientel sehr genau überlege, wo sie ihr Geld ausgibt. Schon jetzt sei klar, dass sich die Unruhe ab Anfang Dezember noch verstärken werde. Auf dem etwa zwei Hektar großen Gelände gebe es viele dunkle Winkel. "Das Gros meiner Kunden sind Mädchen und Frauen. Von denen will nach Einbruch der Dunkelheit hier keine mehr allein sein. Wenn sich fortsetzt, was sich bereits jetzt andeutet, ist die Senatsentscheidung für mich eindeutig existenzgefährdend."

Die grassierende Angst bekommt auch Pia Fellechner zu spüren. Die 59-Jährige leitet seit neun Jahren das "Kinderland Moorburg". In dieser Zeit schrieb der Kindergarten seine ganz eigene Erfolgsgeschichte. Während der Ort durch Hausabbrüche und Abwanderung schrumpfte, ist die Kita kontinuierlich gewachsen. Mit 20 Kindern ist sie Anfang der 1990er-Jahre gestartet, im Vorjahr waren es schon 67. Aktuell sind es 58, die von neun Erziehern betreut werden. Von 6.30 Uhr bis 18 Uhr, fünf Tage die Woche. Seit die Grundschule vor einigen Jahren endgültig geschlossen wurde, bevölkern die Kindergartenkinder fast das gesamte ehemalige Schulgebäude. Und den weitläufigen Außenbereich. In dem es nicht nur mehrere Spielplätze, auch jede Menge Grün rund um den Moorburger Elbdeich gibt.

"Unser Konzept mit vielfältigen Bewegungsangeboten, eigener Küche und großer zeitlicher Flexibilität hat auch viele Eltern aus anderen Stadtteilen überzeugt", sagt Pia Fellechner. Inzwischen kämen mehr als die Hälfte aller Kinder aus dem Umland. Doch mit dem großen Zulauf sei es nun anscheinend vorbei: "Seit bekannt ist, dass ehemals Sicherungsverwahrte in Moorburg untergebracht werden sollen, gab es bereits fünf Kündigungen. Jede einzelne Absage wurde mit der unseligen Senatsentscheidung begründet. Und neue Anfragen hat es auch nicht mehr gegeben."

Für das "Kinderland", einen eingetragenen Verein und Träger der freien Jugendhilfe, bedeutet das seit September spürbare Betriebsverluste, Monat für Monat. Wer sie ausgleicht, ist unklar. So wächst unter den Pädagogen auch die Sorge um den Arbeitsplatz. "Wenn wir dauerhaft deutlich weniger als 60 Kinder betreuen, wird die Teamstärke nicht zu halten sein", sagt Fellechner. Die gebürtige Schweizerin kann den wachsenden Unmut im einst längsten Straßendorf Europas gut verstehen: "Das Gefühl der Ohnmacht brodelt, es macht die Leute aggressiv. Der Ort ist wie ein Pulverfass."

Wie angespannt die Gemütslage vieler Einwohner entlang der sieben Kilometer langen Deichstraße ist, hat jüngst erst wieder Staatssekretär Jan Pörksen erlebt. Ein freier Verbund Moorburger Frauen, der ein Dutzend verschiedene Verbände und Organisationen von der Kirchengemeinde bis Kulturverein repräsentiert, hatte am 19. Oktober zu einem Ortstermin an die große Kreuzung Moorburger Elbdeich/Waltershofer Straße gebeten. Mehr als 100 Mädchen und Frauen waren da. An diesem markanten Knotenpunkt des Ortes im unmittelbaren Sichtfeld der geplanten Unterkunft für die ehemals Sicherungsverwahrten kreuzen gleich fünf Buslinien. Die vier Haltestellen rund um den kleinen Park+ride-Parkplatz werden de facto von allen Moorburgern frequentiert, die über kein eigenes Auto verfügen. Seriösen Schätzungen zufolge steigen hier täglich 60 bis 70 Schulkinder ein und aus. Hinzu kommen viele junge Frauen und Mädchen, deren Pferde auf den benachbarten Reiterhöfen stehen.

"Das Konzept des Senats ist nicht schlüssig. Es ist viel zu spät und dann auch noch völlig unzureichend kommuniziert worden. Deshalb werden die Proteste auch nicht abnehmen", fürchtet Anja Blös, Pastorin an der St.-Maria-Magdalena-Kirche. Die 44-Jährige betreut die evangelische Gemeinde seit sechs Jahren. Sie bewundert den engagierten Kampf der etwa 380 Mitglieder um ihren Ort. Ihnen gehe es überhaupt nicht darum, die ehemals Sicherungsverwahrten zu verteufeln: "Denn praktisch auf dem Präsentierteller zu leben ist sicher auch für sie eine Zumutung."

Bernd Pinkenburg, seit 13 Jahren Vorsitzender des Schützenvereins, bescheinigt Moorburg eine Boxer-Mentalität. "Ich vergleiche das Dorf mit einem angeschlagenen Faustkämpfer, der einfach nicht K. o. gehen will. Immer wieder muss es Tiefschläge einstecken, aber es steht noch", sagt der 54 Jahre alte Obst-, Gemüse- und Weinhändler. Seine Familie wohnt seit Generationen hier, er wurde hier geboren. Schon Vater Edgar hat in den 70er-Jahren gegen die geplanten Spülfelder gekämpft.

Das Thema Schlickdeponie könnte schon bald wieder akut werden. Gerade erst hat Wirtschaftssenator Frank Horch erneut bekräftigt, Hamburg werde trotz Widerstands der Naturschützer für eine "notwendige Anpassung" des Elbbetts sorgen. Die Aufnahmekapazitäten der Deponien in Francop und Feldhofe sind laut Hafenbehörde aber so gut wie erschöpft. Auf Nachfrage bestätigte Sinje Pangritz von der Hamburg Port Authority, dass Moorburg die erste Wahl bei einem neuen Lagerort für Baggergut aus der Elbe sei. Das 45 Hektar große Areal der Entwässerungsfelder Moorburg-Mitte biete die am besten geeignete Fläche. "Wir werden auch das überstehen", sagt Bernd Pinkenburg. Und gibt dann ein Beispiel für seinen unerschütterlichen Optimismus: "Für Schlickdeponien in Wohngebieten gibt es ja strenge Auflagen. Und: Wo 25 Meter hohe Berge von Baggergut wachsen, ist kein Platz mehr für Logistikflächen."

An eine Hafenerweiterung bis Moorburg glaubt er ohnehin nicht. Dass sich die Containerumschlagsmenge bis zum Jahr 2025 im Vergleich zu heute mehr als verdoppeln soll, hält er für unrealistisch: "Zumal die Konkurrenz in Wilhelmshaven und anderswo ja nicht schläft." Natürlich sei der Hafen Hamburgs Lebensader, an der auch viele Arbeitsplätze hängen würden. "Doch wir haben genug geblutet. Wo heute das Kraftwerk steht, ging der Ort früher bis zur Raffinerie. Moorburg hat in den vergangenen Jahren seinen Beitrag längst geleistet", so Pinkenburg.

Das sehen Rita, 57, und Klaus-Heinrich Dierks, 55, genauso. Sie brüten gerade über den Unterlagen des Planfeststellungsverfahrens zum Anschluss der Autobahn 26 an die A 7. Bis zum 21. November müssen sie acht Ordner mit jeweils rund 150 Seiten studiert haben, um Einsprüche fristgemäß geltend zu machen. Seit Generationen lebt die Moorburger Familie von den Erträgen ihres landwirtschaftlichen Betriebs, zu dem immer eine Kuhherde gehörte. Deren Bestand ist nun in Gefahr.

"Die geplante Trasse durchschneidet unsere noch verbliebenen Weideflächen. Wenn sie so kommt, müssen wir den Betrieb aufgeben", sagt Rita Dierks. Das will sie nicht hinnehmen. Als erste Vorsitzende des Landfrauenvereins hat sie Stimme und Sitz im ständigen Gesprächskreis und am runden Tisch Moorburg/Hohenwisch, wo Vertreter von einem Dutzend Verbänden und Organisationen des Ortes immer wieder um den Erhalt der Lebensqualität ringen: "Es muss endlich Schluss damit sein, dass die Stadt alle ihre Probleme nach Moorburg delegiert. Wir wollen nicht die Müllhalde Hamburgs sein."

Derweil setzt sich die Erosion des Ortes - dessen Bestandsgarantie 2035 ausläuft - fort. Geschäfte gibt es, abgesehen von "Roli's" Kiosk, schon lange nicht mehr. Jahr für Jahr werden drei bis vier Häuser abgerissen. Knapp 80 Prozent aller Immobilen sind im Besitz der Stadt. Aktuell verwaltet die kommunale Gesellschaft Saga GWG 217 Wohnungen. Von denen stehen zurzeit 33 leer. Mehrere seit vielen Jahren. "32 könnten erst nach einer Sanierung wieder vermietet werden", sagt Sprecher Michael Ahrens. Paradoxe Zahlen angesichts der Pläne des Senats, private Vermieter künftig bei Leerständen von mehr als drei Monaten mit empfindlichen Strafzahlungen zu belegen.

Für die Schwestern Hilde, 84, und Elfriede, 90, Langeloh hat das Vorgehen des Senats Methode. "Man wird den Eindruck nicht los, dass der Ort langsam, aber sicher entvölkert werden soll", sagt Hilde, "wir lassen uns aber nicht vertreiben." Die Häuser, in denen sie wohnen, sind seit 1671 in Familienbesitz. Hilde Langeloh: "Hier sind wir geboren, hier wollen wir auch sterben."