Kinder haben bei uns fast schon Seltenheitswert. Da will eine Flut von Erziehungsratgebern Eltern zur Kindes-Optimierung verhelfen

Er hatte eigentlich noch gefehlt. Der Hamburger Dreifach-Papa Sky du Mont hat nun auch noch ein Buch über Kinder geschrieben - gefühlt war er der letzte Prominente mit eigenem Nachwuchs, der noch nicht sein furchtbar aufregendes Leben auf Hunderten Seiten aufgeblättert hat. Damit liegt er hierzulande im Trend. Man hat zwar nur noch selten Kinder, aber dafür werden ständig neue Bücher über die verbliebenen lieben Kleinen geschrieben, publiziert, beworben - und offenbar auch verkauft, am Ende vielleicht gar noch gelesen. Und weil die Buchverlage häufig Modetrends folgen, sind derzeit spaßige Berichte von der Familienfront wie du Monts "Liebeserklärung an die Chaosfamilie" der Renner.

Zuvor nutzten vor allem Journalisten die Elternzeit, um das ganze Land über "Kinderkacke" oder "Babybeschiss" aufzuklären. Und gar nicht mitgezählt sind - diese Zahl ist amazon-gestützt - sage und schreibe 31 562 Erziehungsratgeber.

Damit kommt rein rechnerisch auf 20 Neugeborene ein Titel - wohlgemerkt ein Titel, kein Exemplar. Gehen wir von einer Auflage von nur 1000 Exemplaren aus, dürfen die Eltern zu Hause also 48 Ratgeber liegen haben. Ist das ein Grund zur Erleichterung? Oder eher zu tiefer Sorge?

Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering brachte das Phänomen der Erziehungsratgeber-Flut einmal auf den Punkt: "Meine Mutter hat das noch ganz ohne hinbekommen." Und die musste ihren Sohn die ersten sechseinhalb Jahre allein erziehen, weil ihr Mann erst spät aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.

Ohne Erziehungsratgeber klarkommen? Das geht heute offenbar nicht mehr und sagt viel über die Gesellschaft aus. In Zeiten, wo Einzelkinder eher die Regel denn die Ausnahme sind und vier Kinder in einer Familie schon als ausgefallenes Drehbuch für eine Prime-Time-Komödie taugen, haben Kinder einen Seltenheitswert erlangt. Im wahrsten Sinne des Wortes: Wer nur ein Kind hat, wird alles dafür tun, dass sich alles um diesen Stern dreht. Unsummen werden in frühkindliche Bildung investiert, die beste Schule ist eigentlich noch zu schlecht, und der Druck aufs Kind wächst. Es gilt nicht mehr der Wunsch "Unser Kind soll es einmal besser haben", sondern der Befehl: "Du musst besser sein." Jedes Hindernis auf dem Weg zum vermeintlich perfekten Menschen wird erst mit Erziehungsratgebern, dann mit Therapeuten und zur Not auch mit anwaltlicher Hilfe durchgedrückt. Wer daran zweifelt, besuche einfach mal einen Elternabend ...

Auf der anderen Seite ist der Druck auf die Väter und Mütter enorm gewachsen - das Abitur wird zur Bürgerpflicht, abweichendes Verhalten des Nachwuchses gilt als Beleg für ein Fehlverhalten der Eltern. Und was "abweichendes Verhalten" ist, definieren gern Kinderlose. Für sie wächst alles, was mit Krach und Dreck, Geschrei und Gezeter zu tun hat, schnell zum Skandal aus. Jeder, der Kleinkinder hat, kennt die Belehrungen von Besserwissern, deren Kompetenz sich offenbar aus Fernsehkonsum speist. Die RTL-Supernanny macht aber aus Hagestolzen oder alten Jungfern noch keine Superpädagogen. Oder konsumieren derlei Volkserzieher am Ende einige der 31 562 Erziehungsratgeber? Vielleicht speist sich daraus ja auch das Wissen der vielen Bildungspolitiker, die ihr ständiges Reformfeuerwerk am Brennen halten müssen?

Das könnte zumindest den Abverkauf der Bücher erklären. Warum aber wird dann ein Comedy-Band über Kinderleben zum Erfolgsschlager? Eben weil das Leben mit Kindern von etwas Alltäglichem zum Besonderen geworden ist. Bizarr finden wir fast nichts mehr, keine Eigenart blieb Privatfernsehmachern in den vergangenen Jahren verborgen, keine Schrulle wurde nicht abendfüllend besprochen - mit einer Ausnahme: Kinderreichtum gilt heute als neue Skurrilität. Das Banale wird zum Bizarren. Und zum Stoff, aus dem Bestseller sind.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt