Die erste Verhandlung gegen Piraten in Hamburg seit 400 Jahren belastet Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und zehn Angeklagte.

Neustadt. Dieser Prozess zehrt an den Nerven der Verteidiger, des Gerichts und der Angeklagten. Zwei Jahre liegt der Start der spektakulären Verhandlung um zehn somalische Piraten nun schon zurück. Dabei ist die Sache im Kern klar: Zehn Männer in Schlauchbooten - sogenannten Skiffs - nähern sich am Morgen des 5. April 2010, rund 500 Seemeilen östlich der somalischen Küste dem Hamburger Containerfrachter "Taipan", feuern mit Panzerfäusten und Kalaschnikows auf das Schiff. Abgesehen haben sie es auf die Crew, 15 Männer, die sie entführen und für ihre Freilassung Lösegeld fordern wollen. Im Golf von Aden gehören Attacken auf westliche Handelsschiffe zum Alltag. Doch der Plan scheitert: Die Besatzung verschanzt sich im Fluchtraum, bevor die Piraten das Schiff kapern. Keine zwei Stunden später werden sie von Soldaten einer herbeigeeilten niederländischen Fregatte überwältigt. So weit, so überschaubar.

Alle zehn Seeräuber sind auf frischer Tat ertappt, alle Beweise - Schusswaffen, Enterhaken, Strickleitern - gesichert worden. Es gibt keine vernünftigen Zweifel, dass sie nicht dabei gewesen sind. Es gibt auch keinen Piraten, der das behauptet. Es gibt aber zehn Angeklagte, 20 Verteidiger, ein energisch nachbohrendes Gericht - und gefühlte 1000 Anträge, Beschlüsse und Gutachten. Ein schwerfälliger Rhythmus lähmt die Verhandlung. Diesen aberwitzigen Prozess, der ursprünglich nach vier Monaten beendet sein sollte.

So war die Planung im November 2010. Seitdem wird fast durchgehend verhandelt. Woche für Woche, am 27. September zum 102. Mal, versammeln sich in Saal 337 des Landgerichts die wegen erpresserischen Menschenraubes Angeklagten, ihre 20 Verteidiger, vier Richter, vier Schöffen, zwei Staatsanwälte, drei Dolmetscher und zehn Justizbeamte. Mit den fast familiären Treffen ist es wohl vorbei: Die letzten Verteidigerplädoyers werden am 15. Oktober erwartet, am 17. könnten die Angeklagten ihre Schlussworte sprechen. Dann, am 19. Oktober, verkündet der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz das Urteil. Vermutlich.

Denn so wie der erste Piratenprozess auf deutschem Boden seit 400 Jahren bisher verlaufen ist, ist alles denkbar - auch, dass das Gericht wieder groß in die Beweisaufnahme einsteigt. So wie im Januar, kurz nachdem die Staatsanwälte und ein Verteidiger plädiert hatten. Doch damals warfen neue Beweise, neue Zeugen, ein neues Geständnis den schönen Zeitplan über den Haufen.

Dass auch bei den Angeklagten die Nerven blank liegen, bezeugte am vorerst letzten Verhandlungstag ein seltsamer Auftritt des Abdul K. D. Der 29-Jährige, der durch ein überraschendes Geständnis im Februar zu einer Art Kronzeuge aufgestiegen war und einen Mitangeklagten schwer belastet hatte, brüllte plötzlich. "Ich verstehe Ihre Befragung nicht. Was wollen Sie denn? Verurteilen Sie mich doch endlich."

Offenbar reicht es. Den Angeklagten, die sich seit zwei Jahren in U-Haft befinden; den Verteidigern, die keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die Staatsanwaltschaft macht, weil sie nonchalant über die elenden Lebensbedingungen ihrer Mandanten hinweggegangen sei; der Staatsanwaltschaft, die keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die Verteidigung macht, weil sie den Prozess künstlich in die Länge gezogen habe. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen gingen auch ins Persönliche. Die Kammer hat mehr als 20 Zeugen vernommen und zehn Sachverständige gehört, die über Einschusslöcher an Bord der "Taipan", die Lage in Somalia und die Ergebnisse einer Handwurzelknochenanalyse referierten. 35 000 Euro kostet im Schnitt jeder Verhandlungstag, allein die Ausgaben für die Verteidiger und Dolmetscher haben sich auf mehr als 1,2 Millionen Euro summiert. Kosten, für die der Steuerzahler geradestehen muss. Zum Vergleich: Der "Terror-Prozess" gegen Mounir al-Motassadeq 2001 belastete den Haushalt der Justizbehörde mit 310 000 Euro.

Die Frage ist indes nicht, wie viel es kostet. Ein faires Verfahren hängt in einem Rechtsstaat nicht vom Geld ab. Die Frage lautet: Ist so ein Prozess - Tausende Kilometer vom Tatort entfernt - sinnvoll? Zwei Welten prallen aufeinander: Deutsche Justizgründlichkeit trifft auf zehn Angeklagte, die in einem bettelarmen, archaischen Land aufgewachsen sind. Das Elend, dem sie entstammen, die Armut, der Bürgerkrieg, die westlichen Fangflotten, die den Golf von Aden "leer fischen" - für die Verteidigung ist die soziale Lage der Hauptgrund für das Handeln der Männer. Für die Staatsanwaltschaft zählt das als strafmildernd indes nur am Rande.

Wie ein Rechtsstaat funktioniert, davon haben die Piraten nicht die leiseste Vorstellung, als der Prozess beginnt. Kaum einer weiß, wann und wo er auf die Welt gekommen ist. "Geboren bin ich in der Regenzeit vor 24 Jahren", sagt etwa der Angeklagte Abdi Fata zum Prozessauftakt. Ein anderer antwortet auf die Frage, wo er geboren wurde: "Unter einem Baum." Zehn eher schmächtige Männer sitzen an diesem Tag, es ist der 22. November 2010, in Saal 337. Sie tragen Turnhosen und Sweatshirts, Kapuzenpullover und Schirmmützen. Sie rechnen mit dem sicheren Tod. Der Angeklagte Abdul Y. M., 21, zum Beispiel hält Richter Steinmetz für seinen Henker. Ausgerechnet Steinmetz, den überkorrekten, ausgesucht höflichen Juristen, der stets mit tadellos gebundener weißer Fliege zu Gericht sitzt und den Prozess sauber über die Bühne bringen will. Und so arbeitet sich das Landgericht akribisch durch die Akten, Foto- und Videobeweise, Vernehmungen, Zeugenprotokolle, Sachverständigengutachten, Beweisanträge. Erst geht es nur um die Frage, wie alt einer der jüngeren Piraten tatsächlich ist. Dann brechen die Männer ihr Schweigen, einer nach dem anderen spielt seinen Tatbeitrag herunter. Der eine erzählt: "Ich war der Dolmetscher." Ein anderer: "Ich habe das Wasser aus dem Boot geschöpft." Sie seien zu den Überfällen gezwungen worden. Keiner von ihnen will geschossen haben. Das Gericht ist indes verpflichtet, allem nachzugehen, das kostet Zeit. "Das war wohl ein Fehler der Verteidigung", sagt selbst Verteidiger Andreas Beuth. "Man hätte den Mandanten raten sollen zu schweigen, dann hätten wir schneller ein Urteil bekommen."

Nun könnte es wirklich etwas werden. Die Staatsanwaltschaft hat Anfang September insgesamt 81 Jahre Haft beantragt, für die meisten Erwachsenen zehn Jahre. Die Verteidiger von drei der jüngeren Angeklagten können indes schon jetzt Erfolge vorweisen. "Das Wichtigste war es für mich, meinen Mandanten aus der Haft zu holen", sagt Rainer Pohlen, der Abdul Y. M. vertritt. Er, Beuths Mandant und ein weiterer Pirat sind im April 2012 freigelassen worden. Sie leben in einer Hamburger Jugendhilfeeinrichtung, gehen zur Schule, lernen Deutsch. Vorläufig sind sie noch geduldet. "Sie wollen aber alle drei Asyl beantragen", sagt Beuth. Auch die anderen Erwachsenen könnten nach der Haft auf Staatskosten in Deutschland bleiben - zumal nach Somalia aktuell nicht abgeschoben wird.