5700 Leser haben sich die Mühe gemacht und den Fragebogen des Hamburger Abendblatts ausgefüllt - mit überraschenden Ergebnissen.

Hamburger lieben ihre Stadt. Wer daran bislang gezweifelt hat, wird nun eines Besseren belehrt: Rund 5700 Hamburger haben sich die Mühe gemacht, den Fragebogen "Wie wollen wir leben?" auszufüllen, den das Hamburger Abendblatt am vorvergangenen Donnerstag veröffentlicht hat. Die Resonanz ist einmalig, die Ausführlichkeit, mit der die Teilnehmer ihre Wünsche und Sorgen beschreiben, auch. Komplette Schulklassen sind genauso dabei wie Spitzenmanager und Unternehmer, wie Hausfrauen und Rentner. Aus ihren Antworten und annähernd 85 000 Daten lässt sich eine detaillierte Agenda für Hamburg entwickeln.

Hamburg muss bezahlbaren Wohnraum schaffen

Das Problem ist bekannt, der SPD-Senat unter Bürgermeister Olaf Scholz hat versprochen, es zu ändern. Doch weil davon noch wenig zu erkennen ist, bleibt der Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum mit Abstand der größte der Hamburger (siehe Tabelle unten). 6000 Wohnungen will der Senat mindestens pro Jahr bauen und sich bei der nächsten Bürgerschaftswahl an dieser Zahl messen lassen. Das Dilemma: So groß das Verlangen der Hamburger nach niedrigen Mieten und günstigen Kaufpreisen für Immobilien ist, so klar sind ihre Vorstellungen, wo keine Wohnungen gebaut werden dürfen: "Der notwendige Wohnungsbau sollte dem Charakter der grünen Stadt nicht schaden", schreibt ein Teilnehmer an der Umfrage des Hamburger Abendblatts, ein anderer: "Der Erhalt der Natur muss Vorrang haben vor kurzfristigen Wohnungsbauzielen." In Zahlen: Zwei Drittel aller Hamburger sind dagegen, dass im Kampf gegen den Wohnungsmangel Grünflächen oder Kleingärten bebaut werden. Deren Schutz, Ausbau und bessere Pflege belegt in der Reihenfolge der zehn größten Wünsche gleich hinter "Bezahlbarer Wohnraum" Rang zwei. Was die Arbeit des Senats zudem nicht einfacher macht, ist, dass die Mehrheit der Hamburger Hochhäuser ablehnt: 67 Prozent sind dagegen, dass die Stadt vermehrt in die Höhe baut. Womit wir bei Punkt zwei der neuen Hamburger Agenda wären.

Hamburg muss seine alte Baukultur schützen

Bei keinem anderen Thema empören sich die Teilnehmer an der Umfrage so wie bei der Bewertung der modernen Hamburger Architektur. Da wird die "Absetzung des Oberbaudirektors" gefordert, um "weiterer Stadtbildverschandelung entgegenzuwirken". "Gesichtslose Allerweltsbauten in der HafenCity" werden genauso kritisiert wie "Klötze aus Glas und Beton", die über die ganze Stadt verteilt seien. Die Forderungen: "Hamburg darf kein zweites Frankfurt werden mit diesen scheußlichen Hochhäusern!" "Gebäude dürfen nicht höher sein als der Michel!" "Die Stadt sollte endlich zu ihrer Backsteinkultur zurückkehren!" Insgesamt belegt der Wunsch nach weniger Glas- und Betonbauten und dem Schutz alter Hamburger Gebäude Platz drei. Den Hamburgern ist offensichtlich nicht gleichgültig, auf welche Weise der Wohnungsmangel gelindert wird, trotz der schwierigen Lage auf dem Wohnungsmarkt geht Qualität vor Quantität: "Wohnraum ist nicht alles, die Identität der Stadt ist wichtiger."

Hamburg muss die ganze Stadt weiterentwickeln

Obwohl die Stadtteile rund um die Alster zu den teuersten und begehrtesten gehören, kann sich eine Mehrheit der Hamburger durchaus vorstellen, am Stadtrand oder im Umland zu wohnen. Auf die Frage, ob sie lieber in der Innenstadt als am Stadtrand/im Umland leben wollen, antworten überraschend nur rund 44 Prozent mit Ja, dafür 56 Prozent mit Nein. Allzu große Sorgen, dass die Hamburger die Stadt tatsächlich verlassen werden, um ins Umland nach Schleswig-Holstein oder nach Niedersachsen zu ziehen, muss sich der Senat allerdings nicht machen. Überwältigende 89 Prozent geben an, in den nächsten zehn Jahren in Hamburg leben zu wollen.

Hamburg muss mehr für Familien tun

62 Prozent der Hamburger finden, dass die Stadt sich besonders um Familien kümmern sollte, nur 29 Prozent sehen die Senioren im Mittelpunkt der künftigen Senatspolitik. Interessant: Ausgerechnet (oder gerade?) in einer Single-Metropole wie Hamburg gibt es offenbar ein großes Interesse an sogenannten Mehrgenerationenhäusern. 63 Prozent der Befragten können sich vorstellen, mit Eltern und Kindern unter einem Dach zu leben. Die dafür benötigten Wohnungen beziehungsweise Häuser hat Hamburg derzeit allerdings nicht.

Hamburgs Arbeitswelt muss digital und analog sein

Nie wieder in einer Behörde eine Nummer ziehen, nie wieder lange Wartezeiten auf dem Amt: Wäre das nicht schön? Wäre es nicht wunderbar, wenn man Ausweise, Nummernschilder, Geburtsanmeldungen, etc. einfach von zu Hause, am Computer erledigen könnte? Nein, finden die Hamburg in einer erstaunlich großen Mehrheit : 81 Prozent möchten nicht, dass die Ämter durch Onlinedienststellen ersetzt werden. Überhaupt scheinen die Hamburger eine Vorliebe für die alte, analoge Arbeitswelt zu haben. Drei Viertel wollen nicht "ständig und überall" erreichbar sein, 68 Prozent möchten weiter lieber im Büro arbeiten als zu Hause am Computer.

Hamburg muss den Nah- und den Radverkehr verbessern

Wer in diesen Tagen versucht, durch endlose Staus die Hamburger Innenstadt mit dem Auto zu erreichen, wird kaum verstehen, dass in der zweitgrößten deutschen Stadt alternative Verkehrsmittel und der öffentliche Nahverkehr ein beherrschendes Thema sind. Doch tatsächlich ist genau das der Fall, zumindest wenn es um die Zukunft geht. Unter den zehn meist genannten Wünschen haben gleich drei direkt mit dem Verkehr zu tun. Viele Hamburger wünschen sich einen Ausbau der Radwege und dass Radfahrer in der Verkehrspolitik Vorrang vor Autofahrern haben (Platz vier). "Wir brauchen ein neues Verkehrskonzept, das sich nicht weiter am Autoverkehr orientiert", heißt es in den Kommentaren, "Hamburg soll mehr wie Kopenhagen werden". Oder, um alle Verkehrsthemen aus der Liste der zehn Top-Wünsche auf den Punkt zu bringen: "Ich wünsche mir preisgünstige öffentliche Verkehrsmittel, die Wiederherstellung des Straßenbahnnetzes, den Ausbau der Radwege." Gerade das Interesse am HVV ist bei den Hamburgern sehr groß: Sie verlangen nicht nur einen Ausbau des Netzes, sondern vor allem eine Verringerung der Fahrpreise, die im Januar um 3,5 Prozent erhöht werden sollen. Insbesondere Rentner kritisieren, dass sie sich Bus- und Bahnfahrten in Hamburg kaum noch leisten könnten. Aus ihren Reihen kommt auch oft der Vorschlag, den öffentlichen Nahverkehr in Hamburg gleich kostenlos zu machen. Und wer gedacht hätte, die Diskussion über eine Stadt- beziehungsweise Straßenbahn hätte sich erledigt, irrt: Der Wunsch danach kommt immerhin auf Platz zehn (siehe unten). Da ist nur noch die Tatsache überraschender, dass eine knappe Mehrheit der Hamburger dafür ist, die Innenstadt für private Autos zu sperren.

Hamburg muss (und darf) sparen

Was ist ihr größter Wunsch für Hamburg? "Sparen, sparen, sparen", schreibt ein Teilnehmer an der Umfrage, und ein anderer: "Dass Politiker und leitende Beamte bei Fehlentscheidungen, bei denen Steuergelder verschwendet werden, haften." Beide Antworten stehen beispielhaft für mehr als 100 Kommentare, die sich zum Teil detailliert mit der Frage beschäftigen, wie und wo Hamburg sparen muss. Fakt ist: Die Hamburger haben nicht nur grundsätzlich Verständnis dafür, wenn staatliche Ausgaben zurückgehen, sie fordern eine Sparpolitik angesichts hoher Schulden sogar offensiv ein. Der Wunsch "Schulden abbauen" landet in der Liste der größten Wünsche deshalb (und für die Redaktion überraschend) schon auf Platz fünf. Noch ein Zitat: "Wir brauchen eine Regierung, die nicht vom Sparen redet, sondern wirklich spart."

Hamburg muss die soziale Spaltung der Gesellschaft verringern

Große Sorgen machen sich die Hamburger offenbar auch um die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. "Die soziale Schere muss sich endlich wieder schließen", heißt es auf vielen Umfragebögen, insgesamt ist das der achtmeist genannte Wunsch.

Hamburg muss seine Bürger einbeziehen

Trotz der großen Probleme mit dem Bau der Elbphilharmonie finden immer noch 43 Prozent der Hamburger, dass die Stadt gerade solche Leuchtturmprojekte braucht. Der Wunsch "Noch zu Lebzeiten in die Elbphilharmonie gehen zu können!" schafft es zwar nicht in unsere Top Ten, taucht aber immer wieder auf. Sollte Hamburg in Zukunft ähnlich große Projekte in Angriff nehmen, zum Beispiel eine Olympiabewerbung, wäre es gut beraten, die Bürger rechtzeitig einzubeziehen - genau das wünschen sich nämlich 77 Prozent.

Hamburg muss im Kern so bleiben, wie es ist

Bei allen notwendigen Veränderungen muss Hamburg "im Kern" so bleiben wie es ist. Das ist nicht nur der sechstmeist genannte größte Wunsch: "Der Schutz alter Hamburger Werte wie der vielen Grünflächen, der Backsteinoptik, der Stadtsilhouette" zieht sich in verschiedenen Formen durch die gesamte Umfrage. "Trotz mehr Wohnraum darf Hamburg nicht das grüne Gesicht verlieren" heißt es, und immer wieder: "Hamburg, meine Perle, du sollst so bleiben, wie du bist." Die beste Nachricht zum Schluss: Drei von vier Hamburgern sind bereit, sich ehrenamtlich für die "geliebte Stadt" zu engagieren.