Vor 40 Jahren holte Kottysch als erster und einziger Hamburger Boxer Olympia-Gold. Heute leidet er an Demenz. Seine Tochter erzählt sein Leben.

Er hat einige Minuten dagesessen vor seinem Teller mit Spaghetti Bolognese. Schweigend, der einzige Ton, den er von sich gegeben hat, war der typische Schmatzlaut, der entsteht, wenn man die langen dünnen Nudeln durch die gespitzten Lippen saugt. Doch plötzlich, als hätte ihn ein Stromstoß durchzuckt, kommt Bewegung in Dieter Kottysch. Sein linker Arm, mit dem er früher seine gefürchteten Geraden schlug, bewegt sich, die Hand, noch immer kräftig, schnellt nach vorn, greift die Weinkaraffe, die auf dem Tisch steht. Die darin befindliche Roséschorle landet im Glas, das Kottyschs Tochter Alexandra gerade geleert hatte. Dieter Kottysch stellt die nun leere Karaffe zurück an ihren Platz. Dann versinkt er wieder in seiner Welt. Das liebevolle "Danke, Papi!", das seine Tochter ihm zuflüstert, ruft keine weitere Regung hervor.

Dieter Kottysch, geboren am 30. Juni 1943 im oberschlesischen Gleiwitz, hat Hamburger Sportgeschichte geschrieben. An diesem Montag jährt sich der einzige Olympiasieg, den ein Boxer aus der Hansestadt erkämpfen konnte, zum 40. Mal. Am 10. September 1972 triumphierte der damals 29 Jahre alte Athlet vom BC Sportmann im Finale des Halbmittelgewichts - einer Gewichtsklasse bis 72 Kilogramm, die es heute nicht mehr gibt -, mit 3:2 Punkten gegen den Polen Wieslaw Rudkowski. Um 22.08 Uhr hob der Ringrichter Kottyschs Arm als Zeichen des Sieges, der Champion weiß die Uhrzeit noch genau. Vieles, was davor oder danach passierte in seinem Leben, weiß er nicht mehr, denn Kottysch leidet an Demenz. Und so ist es zu großen Teilen seine Tochter, die seine Geschichte erzählt. Seine Geschichte, die auch ihre ist und vor allem die einer innigen Liebe zwischen Vater und Tochter, und die nun, seit die Krankheit vor rund sechs Jahren zum ersten Mal auffällig wurde, in ihr letztes Kapitel hineingleitet.

Die ersten Anzeichen, zunehmende Vergesslichkeit und Schwächen vor allem im Kurzzeitgedächtnis, nimmt kein Angehöriger besonders ernst. Doch als der Vater nach einem Treffen mit Sportkameraden von einst in Hamburg sein Auto nicht wiederfand, war Alexandra klar, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmte. Dass Kottysch nach einem Weinfest in seiner Heimatstadt Buchholz in der Nordheide den Weg zurück in seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung nicht mehr wusste, obwohl er nur Limonade getrunken hatte, machte auch Wolfgang Weggen stutzig. Der 66-Jährige war früher Sparringspartner Kottyschs, er begleitete den Olympiasieger später als Redakteur der "Bild"-Zeitung über Jahrzehnte. Einst flachsten sie oft miteinander, wenn sich sich gegenübersaßen. Heute ist es nicht mehr erkennbar, was Weggens liebevollen Provokationen überhaupt noch auslösen.

Dieter Kottysch spricht langsam und leise, man muss sich ein wenig einhören, bevor man ihn versteht. Manchmal reagiert er auf einfache Fragen überhaupt nicht, manchmal erzählt er innerhalb von fünf Minuten dieselbe Geschichte dreimal, oder er antwortet auf eine Frage erst, wenn das Gespräch längst in andere Themenbereiche abgedriftet ist. Aber er ist so ruhig und liebenswert dabei, dass er nie wie ein Fremdkörper wirkt. "Ich habe gelernt, dass ich nicht versuchen darf, ihm meine Welt aufzudrücken. Ich muss versuchen, Zugang zu seiner Welt zu finden", sagt seine Tochter, und es ist ein erstaunlicher Satz für jemanden, der im Leben vor der Demenz Zugang zur Welt des Vaters hatte wie wohl kein anderer Mensch.

Alexandra Kottysch ist eine resolute Frau, in deren Leben längst nicht alles golden war. Sie ist 45 Jahre alt, ihren Sohn Davy, 13, zieht sie allein auf, sie spricht von seinem Erzeuger als "Kindsvater" und von dem Mann, den sie kennenlernte, als sie schwanger war, als "Ziehvater". Eine Ausbildung zur Hotelfachfrau steht ebenso im Lebenslauf wie mehrere Berufsjahre im Esso-Konzern und die Erfahrung als selbstständige Büroservice-Leiterin, doch nach einem Jahr Ausfall wegen eines doppelten Bandscheibenvorfalls in der Halswirbelsäule ist sie derzeit arbeitssuchend und nicht frei von Existenzangst. "Dass ich trotzdem positiv denke, habe ich von Papa geerbt", sagt sie. Ihr habe die Geradlinigkeit imponiert, mit der ihr Vater durch sein Leben ging. "Er ist ein Sturkopf und war sehr streng, ich habe nicht nur eine Ohrfeige bekommen. Wir sind manchmal wie Feuer und Wasser, haben uns oft gezofft, aber er hat mich nie verraten und war immer für mich da", sagt sie. Als sie einmal bei einem Dorffest am Autoscooter von einem Jugendlichen geschlagen wurde, habe der Vater die Angelegenheit auf seine Weise geregelt. "Es war cool, einen Olympiasieger im Boxen als Papa zu haben", sagt sie.

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Bei ihrem Vater wuchs sie auf, nachdem die Eltern sich trennten, als sie elf Jahre alt war. Der drei Jahre jüngere Bruder Frank blieb bei der Mutter, der es heute gesundheitlich ebenfalls nicht gut geht. Auch wenn die Geschwister nicht das beste Verhältnis haben, kümmern sie sich gemeinsam um den Vater. Beide leben in Hamburg, kommen mindestens einmal pro Woche zu Besuch nach Buchholz, dann geht es meist zum Spazieren in den Kleckener Forst. "Dabei taut Papa richtig auf, dann lacht er viel und fühlt sich sichtlich wohl", sagt die Tochter.

Gerne würde sie ihn zu sich holen, doch die Wohnung in Oldenfelde ist zu klein, und sie fürchtet auch, ihn aus der gewohnten Umgebung zu reißen und ihm damit das letzte Stück Vertrautheit zu nehmen, das ihm geblieben ist. So übernimmt einmal täglich ein Pflegedienst die Kontrolle, vor allem darüber, ob Dieter Kottysch seine Medikamente einnimmt. Sein Essen bekommt er geliefert, bei der Wäsche hilft die Tochter. Die Autogrammwünsche, die noch immer fast täglich eintrudeln, erledigt er zum größten Teil persönlich, obwohl das Schreiben ihn anstrengt, auch die Körperpflege klappt noch ohne Hilfe, das Einkaufen auch, "obwohl er manchmal die Hälfte der Sachen schon aufgegessen hat, wenn er zu Hause ankommt". Sein Ordnungswahn habe nachgelassen, "früher hätten Sie vom Fußboden essen können, so sauber war es", sagt Alexandra. Dennoch ist die Wohnung in einem bemerkenswert guten Zustand. Im Badezimmer stehen Shampooflaschen ebenso in Reih und Glied wie Parfüm-Miniaturen. Mit den Setzkästen im Flur, vollgestopft mit Fingerhüten aus aller Welt, der Sammlung alter Bügeleisen in der Küche und den Familienfotos an den Wänden im Eingangsbereich wirkt das helle Apartment beinahe wie ein Museum.

Seine Goldmedaille bewahrt Kottysch in einer verglasten Vitrine im ehemaligen Kinderzimmer seiner Tochter auf, in der auch viele der Pokale stehen, die er als neunmaliger Hamburger und siebenmaliger deutscher Meister gesammelt hat. Dass seine Hand zittert, als er das Edelmetall für das Foto hervorholt, liegt nicht nur an der leichten Parkinson-Erkrankung, die ihn zusätzlich quält. "Neben Familie und Gesundheit ist sie das Größte in meinem Leben", hat er mal gesagt.

Es gibt dieses Bild aus der Gold-Nacht von München, das viele Zuschauer zu Tränen rührte. Alexandra, damals fünf Jahre alt, tobt an der Hand ihres Vaters durch den Ring. Den Kampf hatte sie schlafend auf dem Schoß ihrer Mutter Gitta zugebracht. "Als es vorbei war, hob mich eine Fremde in den Ring. Ich bin als Erstes zu Rudkowski gelaufen", erinnert sie sich. Der Gegner war ein guter Freund der Familie, sie hatte ihn lange nicht gesehen und wollte ihn begrüßen. Dass der Papa Großes vollbracht hatte, war der Kleinen damals nicht klar. "Er hat mich dann irgendwann zu sich geholt, gemeinsam sind wir durch den Ring gelaufen", sagt sie.

Die Erinnerungen, die sie an München hat, scheinen in etwa so verschwommen wie die, die ihrem Vater geblieben sind. Vom Attentat am 5. September, als palästinensische Terroristen elf Mitglieder des israelischen Olympiateams als Geiseln nahmen und im Verlauf der Befreiungsaktion 17 Menschen starben, blieb ihr vor allem das Geräusch der Hubschrauber im Gedächtnis, die über dem Olympischen Dorf kreisten. "Wir Kinder waren dort in einem Zimmer eingesperrt, damit uns nichts passieren konnte", sagt sie. Ihr Vater erinnert, "dass diskutiert wurde, ob die Spiele abgebrochen werden. Zum Glück passierte das nicht, denn sonst wäre ich nicht Olympiasieger!"

Die Frage, ob sein Leben ohne diese Goldmedaille überhaupt ein schlechteres gewesen wäre, hat sich Dieter Kottysch nie gestellt, auch wenn er für den Olympiasieg weder eine Prämie erhielt noch eine lukrative Profikarriere starten konnte. Gespräche mit den Promotern Fritz Wiene aus Hamburg und Jean Löring aus Köln blieben ergebnislos, und so beendete er seine Laufbahn nach 280 Amateurkämpfen mit dem größten Erfolg, den ein Sportler erreichen kann. "Ich hätte doch nur noch verlieren können", sagt er. "Es gibt immer noch Menschen, die glauben, dass Papa durch den Olympiasieg reich geworden ist. Bis auf die Medaille und die Ehre ist ihm nichts geblieben", sagt Alexandra.

Eine Trainerkarriere gab Kottysch schnell auf, bis zur Pensionierung arbeitete er als Technischer Zeichner, zunächst bei seinem Förderer, dem Tchibo-Erben Günter Herz, der ihn schon während seiner aktiven Karriere unterstützte, später bei den Stadtwerken in Buchholz. Sport treibt der Mann, der früher jeden Tag um die Außenalster joggte und den ersehnten Marathon nur wegen seiner Senk-Spreizfüße nicht laufen durfte, nicht mehr - bis auf die 30 Liegestütze am Morgen. Er habe doch, sagt Kottysch gern, so viel trainiert, dass es für zwei Leben reichen würde. Vor ein paar Jahren hat er mal ausgerechnet, dass er mit den absolvierten Trainingskilometern eineinhalbmal um die Erde hätte rennen können.

Immerhin hat ihm das Gold von München Treffen mit Spitzenpolitikern wie dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt oder dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beschert, den er anlässlich des 20. Jubiläums seines Olympiasiegs in Berlin um ein Autogramm für seine Tochter bat. Weizsäcker, großer Boxfan im Allgemeinen und von Kottysch im Besonderen, erledigte das gern. "Dank Papa habe ich eine Menge Prominenter kennengelernt. Das war toll, und ich war immer stolz, einen Olympiasieger als Vater zu haben", sagt Alexandra, die zu vielen Treffen mitkommen durfte.

Das 40. Jubiläum werden sie statt in der Hauptstadt wohl nur mit einem Essen im engsten Familienkreis feiern, bei Fontana, dem Stammitaliener des Vaters. Dort kennt man ihn und behandelt ihn wie einen ganz normalen Menschen. Anders als so viele Bekannte von früher, die sich abgewendet haben, als sie von Kottyschs Schicksal hörten. "Es wird unheimlich viel geredet, aber leider nicht mehr mit Papa, sondern über ihn", sagt die Tochter. Dennoch sei sie froh, dass das Thema Demenz spätestens seit dem spektakulären, zwischen zwei Buchdeckel gedruckten Outing des früheren Schalker Fußballmanagers Rudi Assauer in der Gesellschaft angekommen sei und auch öffentlich enttabuisiert werde.

Nur einmal in den rund drei Stunden, die das Gespräch dauert, ist Alexandra Kottysch den Tränen nahe. Die Antwort auf die Frage, was sie fühle, wenn sie ihren Papa, diesen starken Helden ihrer Kindheit, nun als zerbrechlich erleben muss, fällt ihr schwer. "Es ist unglaublich hart, ihn so zu sehen. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem er mich nicht mehr erkennt. Mein Vater war immer mein bester Freund. Aber er hat mich nie aufgegeben, und ich werde ihn auch nie aufgeben", sagt sie. Sie hat den Arm um ihren Vater gelegt. Er sagt nichts, erwidert die Geste erst nach Aufforderung. Aber da ist etwas in seinem Blick, das die Überzeugung reifen lässt, dass es auch für Dieter Kottysch etwas gibt, das er nie vergessen wird.