Viele Einwohner im Hamburger Süden fühlen sich vom Norden der Stadt stiefmütterlich behandelt. Dabei hat sich einiges getan.

Harburg. Vorurteile sind hartnäckig. Selbst dann, wenn die Realität ihnen widerspricht. Der Süden Hamburgs ist so ein Beispiel. Zwar vergaß kein Hamburger Bürgermeister in den zurückliegenden Jahrzehnten, die Bedeutung südlicher Stadtteile wie etwa Harburg, Wilhelmsburg oder auch der Veddel zu betonen. Dennoch hält sich nördlich der Elbe - wenn auch im Scherz gesagt - das Gerücht, gleich hinter den Elbbrücken beginne der Balkan an.

Im Süden dagegen, vornehmlich in Harburg, pflegt man die Attitüde, die "Stiefkinder" Hamburgs zu sein. Wer in unmittelbarer Nähe einkaufen gehen will, sagt, er gehe in die Stadt. Wer sich über die Elbe aufmacht, erklärt, er fahre nach Hamburg. Die Entscheidung des Senats, ehemalige Sicherungsverwahrte in Moorburg unterzubringen, hat dem Vorurteil vom vernachlässigten Süden neue Nahrung gegeben. "Hamburg verlagert seine Probleme gern in den Süden", sagt Arne Weber, Chef des Baukonzerns HC Hagemann im Harburger Binnenhafen.

Ein junger Familienvater aus Hausbruch beklagt in einem Leserbrief, die Senatsentscheidung belege, "dass der Hamburger Senat die Bürger im Süden der Stadt als Bürger zweiter Klasse behandelt". Umsiedelung durch die Hafenerweiterung, der Bau des "Klimakillers" Kohlekraftwerk, Bau der Autobahn 26, Errichtung eines giftbelasteten Schlickhügels und die Hafenquerspange - "immer wieder Moorburg und die Region Süderelbe", heißt es in dem Leserbrief.

Wer sich in diesen Tagen im Süden Hamburgs umsieht, dem fällt es schwer, das harsche Urteil nachzuvollziehen. Im Harburger Binnenhafen verbreitet der Beach-Club am Veritaskai südländisches Flair. Mit Blick ins historische Hafenbecken lassen hier Studenten ebenso wie Manager in feinem Zwirn den Alltagsstress hinter sich.

Ringsum sind in jüngerer Zeit moderne Bürobauten in den Himmel gewachsen. Der sogenannte Channel ist ein riesiger Think Tank, "in dem sich viele zukunftsorientierte Wirtschaftsbranchen angesiedelt haben, zum Beispiel aus der Bereichen Luftfahrt, Automobilbau, Biotechnologie und IT-Dienstleistungen", sagt Jochen Winand, Vorstandschef der Süderelbe AG und Chef des Wirtschaftsvereins für den Hamburger Süden. Nebenan auf der Schlossinsel entsteht ein exklusives Wohnprojekt mit 185 Wohnungen. "Aus denen die neuen Bewohner direkt auf ihr vor der Haustür vertäutes Segelboot schauen können", sagt Arne Weber.

+++ Chancen im Süden +++

Auch ein paar Kilometer weiter westlich drehen sich Baukräne. Hier, wo die Straßen Am Johannisland oder Torfstecherweg heißen, entsteht das "Elbmosaik" - eine Siedlung mit Stadt-, Reihen- sowie Mehrfamilienhäusern inmitten grüner Umgebung.

Auf dem Weg gen Norden machen wir halt im Reiherstiegviertel in Wilhelmsburg. Seit hier vor einigen Jahren der Senat mit dem Projekt startete, durch Mietzuschüsse und Sanierungsförderung Studenten anzusiedeln, hat sich das Gesicht des Quartiers geändert. Alles, was Hamburg ausmacht, findet man hier auf engstem Raum: große, (noch) bezahlbare Wohnungen, grüne Parks, Wasser, nette Cafés und ein Kulturzentrum.

Diese positiven Aspekte können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Süden der Hansestadt Hamburg nach wie vor reichlich Probleme hat und im Vergleich mit dem nördlichen Teil der Metropole oftmals hinterherhinkt. Dafür genügt allein ein Blick in Unterlagen des Statistikamts Nord. Fast jeder sechste Einwohner im Süden lebt von Hartz IV. Der Anteil an Sozialwohnungen liegt mit gut 15 Prozent deutlich über Hamburgs Durchschnitt. Und die Arbeitslosenquote ist mit am höchsten.

Da überrascht es wenig, dass mit durchschnittlich etwa 26 000 Euro Jahreseinkommen die im Süden lebenden Einkommenssteuerpflichtigen deutlich weniger verdienen als beispielsweise in Eimsbüttel, wo der Durchschnittsverdienst bei knapp über 34 000 Euro liegt. Das wirkt sich auch auf die Infrastruktur aus. In Sachen Kita-Plätze hat der Süden ebenso Nachholbedarf wie bei der Zahl an niedergelassenen Ärzten.

Problematisch ist auch, dass es noch immer kein schlüssiges Mobilitätskonzept für den Schwerlastverkehr im Süderelberaum gibt. Tag für Tag donnern Brummis im Minutentakt über die Bundesstraßen 73 und 75.

+++ Senat zahlt Kopfprämie an Vermieter im Hamburger Süden +++

Hinzu kommen die städtebaulichen Sünden der Vergangenheit. "Der Harburger Ring, der von vielen Zweckbauten aus grauem Waschbeton dominiert wird, zerschneidet die Innenstadt ebenso wie die Bahntrasse, "die den boomenden Binnenhafen von Harburgs Zentrum trennt", sagt Arne Weber.

Unter der "unattraktiven Innenstadt" leidet nach Ansicht von Jochen Winand die Qualität des Einzelhandels. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Bauten in exponierter Lage wie das Harburg-Center am Ring oder der Gloria-Tunnel, die Verbindung zwischen Innenstadt und Phoenix-Viertel, seit Jahren verrotten. Zerschlagene Schaufensterscheiben, mit Plakaten wild beklebte Fassaden, Taubendreck und Müll prägen das Bild. "Das ist ohne Worte", sagte Bausenatorin Jutta Blankau (SPD) im Herbst 2011 bei einem Besuch. Geändert hat sich nichts.

Dierck Trispel, stellvertretender Harburger Bezirksamtsleiter, macht keinen Hehl aus der Situation. Harburg erscheine vielen Menschen als "unfertig", erzählt er. "Während Stadtbezirke im Norden den Stadtentwicklungsprozess weitgehend abgeschlossen haben, erleben wir im Süden Hamburgs unglaubliche Veränderungen." Winand sieht das ebenso: "Der Stadtbezirk befindet sich im Umbruch."

Eine Chance sieht Trispel, ohne die Probleme kleinreden zu wollen, auch in dem hohen Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund. Hamburgs Süden sei ein "Experimentierfeld für das Zusammenleben in einer modernen Stadt", sagt er. In manchen Quartieren liegt der Bevölkerungsanteil von Migranten bei 50 Prozent. Da wiegt es schwer, wenn 250 000 Euro für die offene Kinder- und Jugendarbeit gespart werden sollen.

Auf dem Schwarzenberg im Herzen Harburgs erlebt derweil die Technische Universität Hamburg-Harburg (TUHH) eine rasante Entwicklung. Vergangene Woche wurde das 25,8 Millionen Euro teure Hauptgebäude eingeweiht. Es sei ein "Tor" nach Harburg und zur Welt, sagte TUHH-Präsident Garabed Antranikian. Vor allem war es notwendig, weil an der Universität statt der eigentlich geplanten 2800 Studenten aktuell mehr als 6000 immatrikuliert sind.

Aktuell ruhen die Hoffnungen der Südhamburger auf der Internationalen Bauausstellung (IBA) und der Internationalen Gartenschau (igs), die im kommenden Jahr für Aufmerksamkeit sorgen sollen. Zudem entstehen auf dem IBA-Gelände 1200 Wohnungen.

Was die unterschiedliche Wahrnehmung angeht, so wünschen sich die Menschen im Süden zwar, dass ihre Quartiere positiver wahrgenommen werden. Doch klar ist auch, dass niemand von seinen Eigenheiten lassen will. "Das liebenswerte Lokalkolorit ist genauso wichtig wie die Entwicklung eines Stadtviertels", sagt Dierck Trispel.