Schulsenator verteidigt das harte Vorgehen seiner Behörde gegen Schulpflichtverletzungen und die schnelle Einführung der Inklusion.

Hamburg. Hamburg hat ein Schulschwänzer-Problem. Allein im ersten Quartal gab es 416 Fälle von Schulpflichtverletzungen - im gesamten Schuljahr 2010/2011 waren es 1117. Für Aufsehen hat der Fall einer Schulschwänzerin aus Rahlstedt gesorgt, den das Abendblatt öffentlich gemacht hat: Vanessa (Name geändert) schwänzte jahrelang die Schule, ihre Zeugnisse bestanden fast nur aus Sechsen - und trotzdem wurde sie von ihren Lehrern wieder weiterversetzt. Jetzt steht die Schülerin ohne Abschluss da.

Im Abendblatt-Interview nimmt Schulsenator Ties Rabe (SPD) Stellung zu dem Fall.

+++ Zur Person: Ties Rabe +++

+++ Schwänzen mit System +++

+++ Der Hamburger Schulschwänzer-Report +++

Hamburger Abendblatt: Herr Senator, Stimmen Sie uns zu, dass der Fall Vanessa nie hätte passieren dürfen?
Rabe: Jeder Fall ist einer zu viel. Aber manchmal stößt auch der Staat an Grenzen. Er kann Schüler nicht in Handschellen zum Unterricht bringen und an den Pfosten ketten.

Es gibt also einen Punkt, an dem der Staat nur noch kapitulieren kann?
Rabe: Ich möchte nicht, dass der Staat kapituliert. Im Fall Vanessa hatte der Staat am Ende alle Mittel ausgereizt - die Mittel reichten dann am Ende nicht aus. Hier hätte man eher und konsequenter eingreifen müssen. Denn: Wir können viel mehr tun, um Schulschwänzen zu vermeiden.

Was denn?
Rabe: Man muss früh ansetzen - schon in der Grundschule. Und man muss sorgfältig und konsequent handeln. Wir müssen zudem Eltern aufklären über die großen Probleme, die bei Schulschwänzen entstehen. Ich habe den Eindruck, dass einige Schwänzen oft als Kavaliersdelikt sehen.

In Hamburg gibt es mehr Schulabbrecher als in fast allen anderen Großstädten. Warum fallen Kinder und Jugendliche aus dem System?
Rabe: Manchmal wachsen viele Kinder in Familien auf, die der Schule fremd gegenüberstehen. Manchmal haben Jugendliche eine gewisse Egal-Stimmung, weil sie glauben, dass sie ohnehin keine berufliche Perspektive haben. Und: In einem bestimmten Alter schwänzt man, weil man es cool findet, die Erwachsenen auszutricksen. Gerade beim letzten Phänomen muss und kann man mit klaren Regeln sehr erfolgreich sein.

Lehrer kritisieren, dass sie sich in Überstunden um Schwänzer kümmern sollen, und fordern Entlastung. Können sie auf Ihre Hilfe zählen?
Rabe: Ja. Deshalb hat die Stadt bei gleichbleibender Schülerzahl in den letzten Jahren mehrere Hundert zusätzliche Lehrer eingestellt, um kleinere Klassen zu ermöglichen. Das ist eine ganz deutliche Entlastung der Lehrer. Aber umgekehrt gehört die Fürsorge für die Kinder und Jugendlichen selbstverständlich zu den Aufgaben der Lehrer. Deswegen müssen sich Lehrer auch um Schwänzer kümmern.

Die Zahl der Bußgeldbescheide und der verhängten Jugendarreste ist in den vergangenen beiden Jahren rasant gestiegen. Was soll diese neue Härte?
Rabe: Das Bußgeld hat eine positive Wirkung, weil es Schülern und ihren Eltern zeigt: Hier hört der Spaß auf. Mit dem Bußgeldbescheid klingeln die Alarmglocken. Dann ist der Kopf der Beteiligten frei, um pädagogische Maßnahmen zu verabreden.

Ist das statistisch bewiesen?
Rabe: Nein. Ich kann nachvollziehen, dass Sie nach harten Daten fragen. Aber manchmal glaube ich, dass ich sogar dann eine Evaluation machen müsste, wenn ich nur meinen Schreibtisch an eine andere Stelle rücken würde. Ich habe die Erfahrung von Pädagogen und Schulleitern - ihnen vertraue ich.

Ein anderes Thema ist der Jugendarrest. 132 Jugendliche sollten im vergangenen Jahr nach Hahnöfersand. Tatsächlich kamen nur 41 - weil sie in letzter Sekunde ihr Bußgeld doch zahlten. Was soll das Ganze?
Rabe: Ich will keinen Schüler aus purer Lust ins Gefängnis sperren. Ich will auch mit den Bußgeldern kein Geld verdienen. Diese beiden Instrumente sollen allen Beteiligten klarmachen: Wir verstehen beim Schulschwänzen keinen Spaß. Genau das erfüllen diese Maßnahmen. Und wenn alle Beteiligten vernünftig werden, kann man am Ende auf die eine oder andere Strafe auch verzichten.

Hamburg hat das Sitzenbleiben abgeschafft. War das ein Fehler?
Rabe: Nein. Sitzenbleiben bringt nichts, ist verschwendete Lebenszeit, macht unglücklich, isoliert Schüler, und fast immer fallen die schulischen Leistungen nach kurzer Zeit auf den alten Tiefstand. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Umgekehrt: Dass Kinder mit lauter Sechsen weiterversetzt werden, wollen wir natürlich nicht. In Ausnahmefällen können Schüler weiterhin sitzen bleiben. Aber vor allem beugen wir mit zusätzlichen Förderkursen vor, damit Schüler den Anschluss nicht verlieren.

Viele Lehrer sagen, dass sie vor Problemschülern kapitulieren, weil sie sie nicht in den Griff bekommen.
Rabe: Bei rund 18.000 Lehrern in Hamburg gibt es für jedes Phänomen eine Anekdote. Aber die Regel ist das nicht. Hamburgs Lehrerinnen und Lehrer machen einen tollen Job.

Sie haben das Projekt "Assistenz für Schulbesuchsüberwachung" als Oppositionspolitiker gelobt. Kaum an der Regierung, haben Sie es abgeschafft. Warum?
Rabe: Dieses Projekt war - wie so vieles der letzten Regierung - als Projekt angelegt und nur kurzfristig bezahlt. Wir haben aber einen dauerhaften Ersatz gefunden, den ich sogar für besser halte: Alle Stadtteilschulen haben eigene Sozialpädagogen bekommen und können so die "Assistenz für Schulbesuchsüberwachung" ersetzen. Mit der Jugendberufsagentur und zusätzlichen Lehrern sichern wir zudem den Übergang von der Schule in die Berufswelt. Wir begleiten jeden einzelnen Jugendlichen auf seinem Lebensweg und überprüfen auch die Berufsschulen - sodass keiner verloren geht.

Stichwort Stadtteilschule: Hier werden die meisten Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach dem Inklusionsprinzip angemeldet, was zusätzliche Belastungen schafft. Ist das noch fair?
Rabe: Die Stadtteilschule ist die beste Reformidee der letzten Jahrzehnte. Das ist eine schöne Schulform, um die uns andere Bundesländer beneiden. Aber sie ist unter schwierigen Rahmenbedingungen gestartet. Unterschiedliche Schulen, Schulformen und Kollegien wurden zusammengelegt. Die Inklusion ist für alle Schulen eine Herausforderung. Und der Vorgängersenat hat sich lieber um die Primarschule gekümmert. Allerdings ist festzuhalten, dass die Stadtteilschule deshalb deutlich mehr Lehrer und deutlich kleinere Klassen bekommen hat. Zudem haben alle Stadtteilschulen zusätzliche Sozialpädagogen für Erziehungsaufgaben bekommen. Dennoch sind wir aufgerufen, die Verhältnisse weiter zu verbessern.

Was soll konkret geschehen?
Rabe: Die Stadtteilschule ist eine Schule für alle Kinder, nicht nur für die Lernschwächeren, sondern gerade auch für die Leistungsstarken. Wir werden daher ein klareres Profil für diese Schulform entwickeln. Viele Stadtteilschulen werden doch schon jetzt wegen ihres Leistungsprofils offensiv angewählt. Diese Schulform ist die ideale Alternative zum G8-Abitur mit einem Jahr mehr Zeit. Deswegen werden wir überall Oberstufenangebote einrichten, damit man an jeder Stadtteilschule Abitur machen kann.

Aber man hilft der Schule auch nicht, wenn man die Probleme nicht benennt. Noch einmal zur Inklusion: Sie kritisieren sehr stark die deutlich gestiegene Zahl von LSE-Diagnosen, die Kinder mit Defiziten in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale Entwicklung betreffen. Was macht Sie so sicher, dass es sich dabei nicht nur um einen Wechsel vom Dunkel- ins Hellfeld handelt, also nicht einfach die Sensibilität gewachsen ist?
Rabe: In diesem Bereich ist nichts richtig sicher. Von 2000 bis 2009 hatten wir in Hamburg pro Jahrgang konstant rund 450 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf "Lernen, Sprache, emotionale Entwicklung". 2010 haben wir das Schulgesetz geändert. Seitdem gibt es zusätzliche Lehrerstunden, wenn der Förderbedarf nachgewiesen wird - und genau seit diesem Datum steigen die Zahlen rapide an. Es kann sein, dass das Dunkelfeld aufgehellt wurde. Es kann aber auch sein, dass hier die neue Ressourcenzuweisung genutzt wird, um weiteren Schülern zu helfen. Das kann ich menschlich verstehen. Aber bei der Inklusion geht es um Fördermaßnahmen für bestimmte Schüler, nicht um Nachhilfeunterricht für alle.

Warum haben Sie das Projekt Inklusion nach Ihrer Amtsübernahme nicht gestoppt, um einen großen Problembereich auszubremsen?
Rabe: Die Enquetekommission Schulentwicklung hat empfohlen, erst die Stadtteilschule einzuführen und danach die Inklusion. Der letzte Senat hat sich entschieden, beides zusammen zu machen. Das alles lief bereits, als ich mein Amt antrat. Aber es wäre unerträglich jetzt zu sagen: "Alle Förderschüler sollen zurück an die Sonderschulen, wir machen fünf Jahre Pause." Das wäre auch ein verheerendes Signal an die Stadt insgesamt.

Glauben Sie, dass die Lehrer ausreichend motiviert sind, nach den vielen Reformen der vergangenen Jahre auch noch die Inklusion durchzuziehen?
Rabe: Bis zum PISA-Schock 2000 haben Schulen und Schulpolitiker fast 20 Jahre geschlummert. Danach begann zehn Jahre Reformhektik. Das hat sicher Nerven bloßgelegt. Wir brauchen das richtige Maß. Denn: Die Welt verändert sich in einem dramatischen Tempo. Auch der Lehrerberuf lebt von Veränderungen. Dass nun überhaupt keine Veränderungen mehr sein dürfen, wie ich es jetzt manchmal an den Schulen heraushöre, kann ich beim besten Willen nicht einsehen. Aber Reformen sollten Augenmaß haben und müssen sich an der Praxis orientieren.

Vor der Bürgerschaftswahl klang das von Ihnen anders: Sie haben gesagt, die Schulen brauchen nach dem Reformchaos vor allem Ruhe.
Rabe: Sie haben völlig recht. Wir müssen das richtige Maß finden. Wir führen in erster Linie die begonnenen Reformen zu Ende. Darüber hinaus gehen wir mit Neuem behutsam vor. Im Wesentlichen geht es darum, die Ganztagsschulen auszubauen. Im Übrigen wollen wir entwickeln und verbessern, was da ist.

Warum muss Hamburg eigentlich immer Erster bei Schulreformen sein?
Rabe: Besser Erster als Letzter. Aber immer Erster ist auch nicht klug. In anderen Ländern gibt es Baustellen, die wir immerhin abgeräumt haben. Bei uns gilt mit dem Schulfrieden eine klare Schulstruktur, während der Streit darüber in anderen Ländern noch tobt. Das Gleiche gilt für die verkürzte Zeit zum Abitur am Gymnasium mit dem neunjährigen Abitur an der Stadtteilschule. Darüber wird anderswo erbittert gestritten. Hier war Hamburg schnell, aber jetzt können wir auch froh darüber sein, dass wir hier weniger Sorgen haben als andere Bundesländer.