Jörg Achim Keller ist seit 2008 Chefdirigent der NDR Bigband. An diesem Wochenende spielen die Musiker mit Quincy Jones in Danzig auf.

Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die Besonderes für die Stadt leisten, hier als Vorbilder gelten. Folge 54: Jörg Achim Keller. Er bekam den roten Faden von Dr. Barbara Hogan, Chefärztin der ZNA in der Asklepios-Klinik Altona.

Da kann ich wedeln, wie ich will!", sagt Dirigent Jörg Achim Keller. Es ist die letzte Probe der NDR Bigband vor der Abreise nach Danzig, wo sie am heutigen Sonnabend auf einem bedeutenden Jazz-Festival auftreten wird: Das Festival "Solidarity of Arts" ehrt Polens bekanntesten Jazzmusiker, den Trompeter Tomasz Stanko, der jüngst seinen 70. Geburtstag gefeiert hat. Bis zu 30 000 Zuhörer werden erwartet - und mit Quincy Jones, der bereits mit Sängern wie Frank Sinatra, Ella Fitzgerald, Sammy Davis junior, Ray Charles und Michael Jackson arbeitete, wird einer der erfolgreichsten Produzenten und Arrangeure der Welt mit dem "Klangkörper" des Norddeutschen Rundfunks auf der Bühne stehen.

Stanko habe sich für dieses Konzert ausdrücklich die NDR Bigband gewünscht, ließ der NDR-Programmdirektor Hörfunk, Joachim Knuth, verlauten, und: "Eine schönere Auszeichnung für Jazzmusiker gibt es kaum." Doch von Aufregung oder gar Hektik keine Spur. Stattdessen ist die Atmosphäre locker und entspannt. Die Musiker packen ihre Instrumente ein, scherzen - und zwischen all den Notenständern, den Stühlen und dem teilweise bereits gepackten Equipment steht Chefdirigent Jörg Achim Keller. Der 45-Jährige ist seit 2008 Chefdirigent des Vorzeige-Orchesters, das aus dem legendären "Tanzorchester ohne Namen unter der Leitung von Franz Thon" hervorgegangen war und sich seit Mitte der 1970er-Jahre zu einer klassischen Jazz-Bigband entwickelte, in der schon viele namhafte Jazzmusiker wechselweise den Ton angaben. Dazu gehören Herb Geller, Wolfgang Schlüter, Howard Johnson, Steffen Schorn oder Nils Landgren; hinzu kamen unzählige Gastmusiker.

Alle Serienteile: Der rote Faden +++

Jörg Achim Keller bittet in sein zweckmäßig eingerichtetes Büro hinter dem Studio 1 an der Rothenbaumchaussee, das seltsam unbenutzt, beinahe steril wirkt. Der Flügel ist abgedeckt, die grauweiße Schreibtischplatte aus Kunststoff ist bis auf ein Telefon und eine Lampe leer - und lägen nicht die paar Plastiktüten und Leinenbeutel herum, die mit Partituren und Notenheften gefüllt sind, man könnte meinen, hierher habe sich schon lange kein Mensch mehr verirrt. Als plötzlich das Telefon klingelt und Keller von der Besuchercouch aufspringt und den Hörer in die Hand nimmt - allerdings nur um festzustellen, dass sich irgendjemand verwählt hat - sagt er lächelnd: "Komisch. Ausgerechnet jetzt. Dabei ruft hier normalerweise nie jemand an."

Als er das erste Mal hier beim NDR war, damals Mitte der 1980er-Jahre, um als hoffnungsfroher 20-jähriger Musikstudent mit einigen seiner Arrangements vorstellig zu werden, sei das anders gewesen, "wie im Film", erinnert sich Keller lächelnd, "dauernd klingelte das Telefon, das winzige Büro unterm Dach war verraucht und die Leute kamen und gingen. Irgendwie hörte niemand so richtig zu, die Musikkassetten klangen ja auch nicht so doll, aber letztendlich schien es allen zu gefallen, was ich da orchestriert hatte - also wurden meine Arrangements genommen. Kurze Zeit später brachte Herb Geller mich bei Peter Herbolzheimer in Baden-Baden ins Gespräch. Und so fing ich dann eben schon sehr früh an, zu arbeiten."

Das, was von den meisten Kennern der Jazzszene als "Karriere-Traumstart" bezeichnet werden würde, klingt aus Kellers Mund ganz selbstverständlich. Jörg Achim Keller lächelt viel, aber es ist nicht das selbstgefällige Lächeln, das sich bei einigen, so offensichtlich außerordentlich begabten Menschen ab und zu findet. Es ist ein Lächeln, das tiefe Zufriedenheit ausdrücken soll. Innere Ruhe. Und Glück.

Er wuchs mit Musik auf, im westfälischen, katholischen Münster, einer Stadt, in der es immer nur regnen würde und jeder Tag ein Sonntag sei. Genauer gesagt, wuchs er mit Jazz auf, der musikgeschichtlich betrachtet in den 1930er-Jahren die Urform populärer Unterhaltungsmusik verkörperte. Sein Vater arbeitete als Arzt, aber er hätte ebenfalls Jazzpianist und Arrangeur werden können. Denn mit Jazz und Swing hatte der sich gemeinsam mit fünf Kommilitonen, die auch aus anderen Fachbereichen stammten, sein Studium finanziert. Als angesagte Band, die ihre Heimspiele stets in der "ersten studentischen Bieranstalt" der Universitätsstadt über die Bühne brachten.

"Sie waren Autodidakten", sagt Keller, "und ich erinnere mich noch gut an die Bandproben bei uns im Wohnzimmer." Der kleine Jörg Achim selbst begann Schlagzeug zu spielen. Später kam auch noch Klavier hinzu, "aber nach zweieinhalb Jahren habe ich mir von meinen Eltern zu Weihnachten gewünscht, damit aufhören zu dürfen." Der Teenager Jörg Achim jammte dann oft mit seinem Cousin herum, der allerdings der Rockmusik verfallen war, "und mit 15, 16 gab es eine Zeit", sagt der Dirigent, "in der ich in der Woche mit fünf verschiedenen Bands geprobt habe. Jazz, Swing, Rock, Funk - und an jedem Wochenende saß ich auf irgendeiner Bühne hinter meiner Schießbude."

Solch ein Mammutprogramm übt, aber Jörg Achim Keller lächelt bescheiden über seine "bunte Zeit". Nein, am Schlagzeug sei er kein Virtuose, auch wenn er als junger Erwachsener als Drummer der Glenn Miller Revival Band bis zu 200 Auftritte pro Jahr absolviert habe.

Das Klavier wurde erst wieder für ihn interessant, als er zunehmend damit begann, Arrangements zu schreiben, was letztlich zu seiner Profession werden sollte, wahrscheinlich sogar zu seiner Berufung. "Ich wusste bereits als Jugendlicher ganz genau, was ich später einmal machen wollte."

Eigentlich hatte er sich nach dem Abitur schon damit abgefunden, seine Bundeswehrzeit im Musikkorps zu verbringen, aber dann wurde er, der aus einem geburtenstarken Jahrgang stammt, ausgemustert. "Es gab damals noch nicht so viele Musikhochschulen in Deutschland, die den Studienzweig Popularmusik anboten", sagt er. Es kamen Absagen. So verschlug es ihn ins niederländische Hilversum, wo er sich ausschließlich fürs Hauptfach "Komposition und Arrangements" einschrieb, was darin begründet lag, dass jede einzelne Bewerbung - für welches Studienfach auch immer - bar bezahlt werden musste. Und er hatte nicht so viele Gulden dabei. Aber es klappte. "Als ich dann bereits ein Jahr später eigentlich schon voll im Job war, hatte ich wieder das große Glück, dass die Hilversumer Professoren sich sehr entgegenkommend und flexibel zeigten. Man erlaubte mir, nur noch das Hauptfach zu studieren", sagt Keller.

Seine Lehrjahre als Dirigent verbrachte Keller bei der Bigband des Hessischen Rundfunks, die im Gegensatz zu den norddeutschen Musikkollegen über ein weit gefächertes Programm verfügen musste. "Vor allem die Karnevalssitzungen waren nicht gerade mein Ding", erinnert sich Keller. Zum Dirigieren sei er sowieso eher zufällig gekommen, "oder besser, es konnte wahrscheinlich nicht ausbleiben, denn irgendwann ärgert man sich als Arrangeur, wenn eine Band nicht den Sound spielt, den man sich vorgestellt hat. Irgendjemand sagte dann: Dann mach mal." Und Keller machte. Er probierte aus, beinahe neun Jahre lang, bis der Umbruch - "ein Generationswechsel", sagt Keller - der Hessischen Bigband vollzogen war, er seinem Nachfolger einen gut bestellten Hof hinterlassen konnte und der NDR ihm nun eine Tür aufhielt, in die er eintreten wollte. "Dabei habe ich eine eher rudimentäre Dirigiertechnik", meint Keller, "und eigentlich ist es ja auch die Rhythmusgruppe, die den Takt vorgibt: Wenn die Gas gibt, kann ich dann mit dem Stock rumwedeln, wie ich will." Seine Hauptarbeit, die er im Rahmen eines 80-Tage-Vertrages mit dem NDR als Pendler zwischen seiner Heimatstadt Münster und Hamburg verrichtet, läge sowieso in den Proben: "Hier wird die Dynamik entwickelt und man versucht, die Instrumente so einzusetzen, dass man den Klang hinkriegt, den man erreichen will."

Die Schwierigkeit, aber auch der besondere Reiz dabei sei, so Keller, dass die NDR Bigband ein "sehr modernes Orchester" sei, ein sogenanntes "Solistenensemble" mit wirklich herausragenden Musikern, wie zum Beispiel dem polnischen Pianisten Vladyslav Sendecki, der den Kontakt nach Danzig hergestellt hatte.

"Natürlich höre ich manchmal auch einen falschen Ton, aber das wissen die Bandmitglieder doch selbst. Da muss ich doch nichts sagen! Nein, wenn ich daher ein Stück arrangiere, muss ich zusehen, dass ich die modernen Solistenfahrten zum Zug kommen lasse."

Keller verbringt viele Nächte des Jahres in Hotels, auch hier in Hamburg. Doch das Leben aus dem Koffer sei nicht der Grund gewesen, warum seine Beziehung scheiterte, aus der er einen sechsjährigen Sohn hat, der in Münster bei seiner Mutter lebt, sagt er und überhaupt versiegt sein Lächeln, wenn er über sein Privatleben reden soll.

Er gehe sehr gerne gut essen, sagt er schließlich zögernd, schaut an sich herunter und lächelt dann schon wieder ob der paar Pfunde zu viel auf seinen Hüften. "Aber das bewegt sich noch alles im Rahmen", sagt er. Und wenn er privat Musik hören würde, dann vorwiegend Klassik. Dudelnde Radiomusik sei ihm dagegen ein Gräuel, vor allem im Auto.

Er könne es sich sehr gut vorstellen, noch einen weiteren Fünf-Jahres-Vertrag hier in Hamburg dranzuhängen. Einen größeren Traum, hat Jörg Achim Keller nicht. "Mit Visionen ist es nämlich immer so eine Sache", meint er, "und klar frage ich mich manchmal, was ich noch unbedingt erreichen will." Doch tatsächlich seien ihm bloß zwei Dinge wirklich wichtig: "Bin ich rechtzeitig zur Probe fertig mit meinen Arrangements und habe ich das, was ich machen wollte, auch umgesetzt? Diese Herausforderungen von Woche zu Woche zu bestehen, das macht für mich meine Arbeit interessant." Nach dem Arrangement sei vor dem Arrangement. Da müsse er keine großen Visionen entwickeln. "Ich möchte bloß das schreiben, was ich mag; für die Musiker, die ich mag und mit denen ich mich wohlfühle - und dann möchte ich das alles bloß noch so gut wie möglich umsetzen. Das ist doch schon mal eine Menge Wert, oder?", fragt Jörg Achim Keller. Und lächelt.

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