Die deutsche Bildungsideologie droht eine ganze Generation zu überfordern. Die Jugend bleibt auf der Strecke

Kürzlich stand an dieser Stelle ein kluger Text aus der Feder von Hariolf Wenzler, der den "Wahn der Beschleunigung" in Schule und Universität geißelte. Es war ein Zwischenruf zur rechten Zeit. Denn die Bildungsdebatte der vergangenen Jahre ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Bildung ist kein Gut mehr, sondern wird mehr und mehr zum Marschbefehl durchs Leben.

Jeder junge Mensch sollte schnellstmöglich einen Abschluss erreichen, predigen Eltern, Lehrer, Wirtschaftsverbände und der Staat: Englisch lernt man am besten schon im Mutterleib, weil mit zwei Jahren das chinesische Au-pair-Mädchen wartet. Parallel folgen Kita mit frühkindlicher Musikerziehung, Ballett und Klettern, dann schnell in die Schule, dank G8 schneller durchs Gymnasium und wegen Bachelor-Reform am schnellsten durch die Universität.

Wo Eltern die Zügel schleifen lassen, muss es - wieder einmal - der Staat richten. Der milliardenschwere Ausbau der Kindertagesstätten und die Einführung von Ganztagsschulen sollen diesen Zweck erfüllen. Um nicht missverstanden zu werden: Frühkindliche Förderung ist gut und richtig.

Doch wo endet Förderung und beginnt Überforderung? Und wie weit, schnell und lang darf Schule eigentlich gehen, bevor sich Lust auf Lernen in Frust aus Lernen wendet? Wollen wir lebenstüchtige Menschen erziehen oder vor allem marktkompatible Arbeitskräfte? Rüsten wir die Kinder noch fürs Leben - oder sind wir längst einem bildungspolitischen Wettrüsten verfallen?

Dieser Eindruck drängt sich auf. Vor wenigen Tagen forderte der so titulierte "Jugendexperte" Klaus Hurrelmann in der "Zeit" allen Ernstes finanzielle Unterstützung des Staates für "Elterntrainings", bei denen Väter und Mütter "direkt in ihrer Aufgabe als Erzieher und Bildungsförderer" ausgebildet werden. So bekämen wir die "Bildungsrepublik sehr schnell hin". Gott bewahre. Bildung ist ein hohes Gut, ein hehres Ziel, aber kein Selbstzweck.

"Cui bono?" Wem zum Vorteil? Nützt es in erster Linie den Kindern und Jugendlichen? Werden sie klügere und bessere Menschen? Oder geht es um das perfekte Funktionieren des Humankapitals auf globalen Märkten? Ist diese beschworene Bildungsrepublik noch ein sozialer Traum oder beginnt er, in einen Albtraum abzugleiten?

Völlig zu Recht haben Generationen in Deutschland für Chancengleichheit gekämpft, um allen den Zugang zur Bildung zu ermöglichen und die Gymnasien für alle zu öffnen. Aus diesem Recht auf Bildung ist längst eine Art Pflicht zum Abitur geworden. Allerdings geht es dabei kaum noch um klassische Bildungsideale, sondern zuvorderst um die maximale Vermittlung von Lehrstoff.

Man wähnt sich manchmal in einem Bildungssozialismus: Schlagkräftig organisierte Interessenvertreter aus Sozialverbänden und GEW verbünden sich mit Wirtschaftsverbänden, begleitet und beklatscht von Fachpolitikern, Bildungsforschern und Publizisten - schließlich ist keiner gegen Bildung. Nur die direkt Betroffenen, die Kinder, die fragt niemand.

Bei der Bildungshatz im Rekordtempo zum Arbeitsmarkt bleibt die Freiheit auf der Strecke. Wie viel Zeit haben Kinder und Jugendliche noch, sich außerhalb von Schule und Verpflichtungen frei auszuleben? Es mag altmodisch, ja kitschig klingen - aber wo werden Dreikäsehochs mehr lernen: in der Nachmittagsbetreuung "Spiel und Spaß" unter pädagogischer Aufsicht innerhalb des Schulgeländes oder bei "Räuber und Gendarm" auf eigene Faust? Wo wird Freiheit greifbar: beim gemeinsamen "Bullerbü"-Lesen drinnen in der Kita oder beim echten "Bullerbü"-Leben draußen im Wald? Wo begreift man soziale Realität: in der Sportstunde auf der Weichbodenmatte oder auf den Ascheplätzen allüberall in Hamburg? Wo übernimmt man Verantwortung: in der Lerngruppe im Ganztagsunterricht oder als Leiter einer Pfadfindergruppe?

Freiheit ist ein guter Lehrmeister - wenn nicht der beste. Ja, Freiheit ist die Grundvoraussetzung für jede Aufklärung. Leider gerät das bei einigen Bildungsideologen in Vergessenheit.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt