Ein Gräberfeld an der Alster verspricht Aufschluss, wie man vor 2000 Jahren hier lebte. 500 Urnen wurden bislang bei Bauarbeiten gefunden.

Hamburg. Eher unscheinbar sind sie, die antiken Gewandnadeln, die das Feuer überstanden haben. Mal aus Eisen, mal aus Bronze, viele auch aus Silber. Die Leichenfeuer waren nicht heiß genug, um sie zu schmelzen. Immer wieder finden die Nadeln sich in den schweren Tonkrügen, bedeckt von kiloschwerem Knochenstaub. "Fibeln" heißen die alten Nadeln, die früher einmal die Stoffe über dem Körper zusammenhielten. Meist waren sie der einzige Luxus, den ihre Träger sich erlaubten. Heute sind sie oft das Letzte, was von ihnen übrig ist. Seit zwei Jahrtausenden liegen die Überreste eines fast unbekannten Germanenstamms bereits unter der Fuhlsbüttler Erde. Die Anfänge der Stadt Hamburg werden um das 9. Jahrhundert datiert. Doch schon 1000 Jahre zuvor könnte hier, am Lauf der Alster, eine bedeutende Siedlung entstanden sein.

Übrig geblieben sind nur die Gräber. 500 Urnen wurden bislang bei Bauarbeiten gefunden, die meisten unter der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Bis zu 4500 weitere vermuten Archäologen auf einem Gelände, das bis nach Alsterdorf hineinreicht. Es wäre ein riesiger Friedhof - und er könnte endlich Aufschluss geben über ein Volk, dessen Herkunft und Schicksal noch im Dunkeln liegt. Von 100 v. Chr. bis 200 n. Chr., so die bisherigen Erkenntnisse, siedelte es auf Fuhlsbüttler Boden. Die Zeugnisse sind spärlich. Gängiges Bestattungsritual in Norddeutschland war - zum Bedauern der Forscher - die Leichenverbrennung. Schreiben konnten die Menschen an der Alster nicht. Hinterlassen haben sie nur ein paar Glasperlen, Fibeln und viele Fragen.

+++Vorzeit-Detektiv +++

+++ Tausende Germanen-Gräber liegen unter "Santa Fu" +++

"Archäologisch gesehen waren die Menschen in Norddeutschland undankbar", sagt Jochen Brandt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Helms-Museum. Er hat sich auf die Jastorf-Kultur spezialisiert, die vor und um Christi Geburt in Hamburg, Dänemark und Teilen Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommerns siedelte. Anders als die süddeutschen Kelten, die üppig ausgestattete Gräber und Skelette hinterließen, waren die Norddeutschen zurückhaltend. "Im Tod stellten sie sich als arme Schlucker dar", sagt Brandt. "Das ist ganz untypisch für diese Zeit." Die Ausstattung der Gräber war reduziert und fast frei von Statussymbolen. Abnutzungsspuren an den Urnen zeigen, dass die Gefäße zuvor als Kochgeschirr benutzt worden waren. In anderen Kulturen lässt sich der Stand der Bestatteten an den Grabbeigaben ablesen; die früheren Alsteranwohner bekamen offenbar nur einen kleinen Krug voller Proviant mit ins Jenseits.

Vieles könnte aber auch verloren gegangen sein. Früher wurden die Urnen von unkundigen Gefängnisinsassen oder Bauarbeitern geborgen. Kleine Nägel etwa, die auf eine Holzkiste als Grabbeigabe hinweisen könnten, wären ihnen entgangen. Die Hamburger Archäologen hoffen deshalb auf die Pläne des Bezirksamts Nord, auf einem Drittel des "Santa Fu"-Geländes Wohnungen zu bauen. Dann dürften sie zuerst anrücken und die Funde sichern.

Für sie sei das Gräberfeld ein umso größerer Schatz, weil sie auf kargeren Feldern graben als ihre Kollegen in Ägypten oder Griechenland. Sie sind einer Kultur auf der Spur, die sich nur in fast nebensächlichen Hinweisen offenbart. "Die norddeutsche Archäologie", sagt Brandt, "ist spröde. Das Leben der Menschen hier ist im Nachhinein oft nur sehr schwer nachvollziehbar. Aber auf eine gewisse Art ist die Arbeit auch spannender." Fast soziologisch müssen sich die Forscher den mysteriösen Vorfahren annähern, denen so gar nicht an Pomp und Selbstdarstellung gelegen war. In seiner Dissertation über die Jastorf-Kultur hat Brandt versucht, sich deren Besonderheiten zu erklären. "Ich stelle mir das ähnlich vor wie in segmentären Gesellschaften", sagt er. Segmentäre Gesellschaften, wie sie zum Beispiel im Pazifikraum leben, kennen keine zentrale politische Führung; als egalitäre Gemeinschaft leben ihre Angehörigen nebeneinander her.

Auch die Menschen an der Alster kannten demnach keine Hierarchien und Eliten. Städtische Zentren fehlten, in denen sich Machtgefälle, aber auch Kunst und Handwerk hätten entwickeln können. Die norddeutschen Eisenzeitler waren nicht nur den süddeutschen Zeitgenossen, sondern sogar den eigenen Vorfahren hinterher. "Wenn wir das mit der Bronzezeit vergleichen, stellen wie einen riesigen Rückschritt fest", sagt Brandt. "Wenn wir etwa sehen, wie repariert wurde, ist das erschütternd." In den isolierten Weilern konnte sich kaum ein Fortschritt, kaum eine handwerkliche Spezialisierung entwickeln. Unbehelligt werkelten die Menschen nebeneinander vor sich hin, ein friedfertiges Volk von Ackerbauern und Viehzüchtern. Die Gehöfte waren bescheiden: Langhäuser, in denen Tiere und Menschen unter einem Dach, aber in getrennten Räumen wohnten. Waffen findet man in den Gräbern kaum, auch keine Verteidigungsanlagen in den Siedlungen. Es ist, als habe man keine Gefahr von außen gekannt.

Seit im Jahr 1873 bei der Aushebung fürs Gefängnis Fuhlsbüttel die ersten Urnen geborgen wurden, wissen Archäologen von dem Gräberfeld. Sein mögliches Ausmaß wurde ihnen erst bewusst, als bei Bauarbeiten für Wohnhäuser, am Gefängnis oder zur Alsterregulierung über die Jahrzehnte immer wieder Urnen und Scherben auftauchten; noch in den 70er-Jahren lieferten Nachkommen der Gefängnisbeamten Stücke im Helms-Musem ab. Angesengte Briefwechsel, im Krieg fast zerstört, zeigen heute die schon frühen Bemühungen des Hamburger Denkmalschutzes, die Überbleibsel wieder zusammenzuführen. Zahlreiche Briefe an ehemalige Gefängnisbeamte, an Museen und an die Justizbehörde drehen sich um Fibeln und Messer. "Es wird ergebenst gebeten, mitzuteilen, welche prähistorischen Stücke seiner Zeit von der Fuhlsbüttler Gefängnisverwaltung dem Museum für Kunst und Gewerbe überwiesen wurden", heißt es etwa in einem Brief vom 18. Februar 1926. Die erste wissenschaftliche Schrift zum Gräberfeld, "Fuhlsbüttel, ein Beitrag zur Sachsenfrage", entstand in den 30er-Jahren für die nationalsozialistische Ahnenforschung.

"Die Alster war eine Lebensader", sagt Rainer-Maria Weiss, Direktor des Helms-Museums. Das lebensnotwendige Wasser und die Hochterrassen, die Schutz vor Überschwemmung boten, machten ihre Ufer attraktiv. Die Dimensionen des Fuhlsbüttler Gräberfelds sind verglichen mit anderen Friedhöfen enorm. Auch die Siedlung, zu der es gehört, muss bedeutend gewesen sein - oder es waren mehrere. Alle 20, 30 Jahre, wenn die Holzhäuser morsch und die Böden ausgelaugt waren, zogen die Germanen ein Stück weiter, immer am Rand ihres Friedhofs entlang. "Der Platz, an dem die Ahnen lagen, war stets der Fixpunkt für die Besiedlung", sagt Weiss. Ähnliche Gräberfelder aus derselben Zeit finden sich auch in Marmstorf und Putensen bei Salzhausen, doch das Fuhlsbüttler ist bei Weitem am wertvollsten.

In Putensen, das in den 60er-Jahren genau erforscht wurde, wurden Weinsiebe, Bronzekrüge und Waffen gefunden - Mitbringsel von Söldnern, die bei den Römern gedient und deren Bräuche und Kenntnisse mitgebracht hatten. In Fuhlsbüttel finden sich diese Dinge bisher kaum. Dennoch gehen die Archäologen davon aus, dass die Römer auch hier Spuren hinterlassen haben. Bisher ist das Feld an der Alster noch zu wenig erforscht, um klare Rückschlüsse auf gesellschaftliche Entwicklungen ziehen zu können.

Um diese nachzuzeichnen, müssten die Archäologen die Gräber besser erfassen: Finden sich Gegenstände, die auf Kontakt etwa zu Kelten schließen lassen? Wann und wie berührten sich welche Kulturen? Gib es römisches Importgut? Lassen sich Anzeichen weiterer Grabbeigaben finden, lässt sich an ihnen ablesen, ob und wann sich Hierarchien entwickelten? Umso wichtiger ist das Fuhlsbüttler Feld, da heute kaum mehr bedeutende Stätten im Boden gefunden werden. Früher, als die Äcker von Hand gepflügt wurden, fielen alte Scherben schneller auf. Heute erledigen Menschen auf Maschinen die Feldarbeit, zu groß, zu schwer, um die antiken Reste aufzuspüren. Die Automatisierung der Landwirtschaft untergräbt die Archäologie. Gerade deshalb hoffen die Forscher auf Grabungen in Fuhlsbüttel: "Das wäre grandios für uns, denn bisher ist die Geschichte wirr", sagt Weiss. "Es gibt noch viel zu erzählen."