Nach evangelischer Auffassung gibt es keine “heiligen Räume“. Wer dem Glauben fernsteht, zählt oft zu den konservativsten Kritikern

So religionslos ist unsere Stadt gar nicht. Wie stark viele Hamburger immer noch von christlichen Empfindungen bestimmt sind, zeigt die intensive Bindung zu ihren Kirchbauten. Unzählige Liebes-, aber auch Empörungsgeschichten zeugen davon. Das ist der evangelischen Kirche bewusst. Deshalb bemüht sie sich so hingebungsvoll wie keine andere Großinstitution in Deutschland um den Erhalt ihrer Bauten, nicht selten bis an den Rand der Selbsterschöpfung.

Dabei gibt es nach evangelischer Auffassung gar keine "heiligen Räume". Evangelische Kirchen sind nicht an und für sich heilig, sondern nur insofern, als Heiliges sich in ihnen ereignet. Martin Luther sagt es so: "Wo Gott redet, da wohnt er. Wo das Wort klingt, da ist Gott, da ist sein Haus, und wo er aufhört zu reden, da ist auch nimmer sein Haus da." Entscheidend ist, was in einer Kirche geschieht und wozu sie genutzt wird. Kirchen sind Nutzbauten. Allerdings geht es um Nutzungen besonderer Art. Die wichtigste ist der Gottesdienst. Dass sich aber auch im spirituellen Gebrauch evangelischer Kirchen Erhebliches verändert hat, zeigt sich daran, dass heute viele Menschen in ihnen allein beten wollen. Nach strenger evangelischer Lesart ist das nicht vorgesehen. Noch vor wenigen Generationen wurde der Kirchraum nur für den Gemeindegottesdienst geöffnet und danach verschlossen. Zum Glück haben wir diese Engstirnigkeit überwunden. Gern öffnen wir unsere Kirche für veränderte religiöse Bedürfnisse und freuen uns auch, wenn Menschen in eine offene Kirche eintreten, um dort für sich einen Moment der Stille zu erfahren.

Doch der Glaube lebt nicht allein vom gemeinschaftlichen Gottesdienst und von der individuellen Frömmigkeitspflege. Er verwirklicht sich auch in der Begegnung mit Kunst und Kultur sowie im Gespräch über christliche Glaubens- und Moralvorstellungen. Deshalb ist es nicht nur zulässig, sondern gelegentlich sogar geboten, auch in Kirchräumen darüber zu diskutieren, wie der Glaube im eigenen Alltagsleben wirksam wird. Vor zwei Jahren habe ich dies beim Wirtschaftsforum erlebt, das die "Zeit" gemeinsam mit der Evangelischen Kirche in Deutschland im Michel veranstaltet hat. So wie Altbischof Huber dort wirtschaftliche Führungspersonen auf ihre ethische Verantwortung hin befragt hat, fand ich dies nicht anstößig, sondern schlicht überzeugend.

Solche nicht gottesdienstlichen Nutzungen gewinnen gegenwärtig neu an Bedeutung. Aufgrund rückläufiger Kirchensteuern verkaufen manche Kirchengemeinden ihre Gemeindehäuser und konzentrieren ihre ganze Arbeit in den Kirchraum.

Das muss keine Notlösung sein, sondern kann dazu führen, dass der Kirchraum eine andere Lebendigkeit gewinnt. Auch die Vermietung an ausgewählte Partner für Konzerte, Lesungen und Debatten kann dies befördern. Vieles ist hier möglich, aber nicht alles ist sinnvoll. Jede neue Form der Nutzung bedarf einer inhaltlichen Begründung. Sollte sich herausstellen, dass eine einzelne Veranstaltungen nicht angemessen sind, sollte das weniger ein Anlass zu empörter Skandalisierung als eine Gelegenheit sein, gemeinsam darüber nachzudenken, wofür evangelische Kirchen da sind.

Manchmal begegnet man als Pastor einem interessanten Phänomen. Ich nenne es den "Konservatismus der Fernstehenden". Gerade diejenigen, die nur selten in die Kirche gehen oder ihr gar nicht mehr angehören, sehen in Kirchenräumen sakrale Orte und reagieren auf profane Nutzungen verletzt. Dies sollte man achten. Denn hier äußert sich ein Gefühl dafür, dass Kirchen einen unverzichtbaren Gegenakzent zur sonstigen Lebens- und Arbeitswelt darstellen. Aber es wäre falsch, eine Kirche auf die Rolle des "Gegenortes" zu reduzieren, in dem nur Stille und Einkehr erlaubt wären. Manchmal muss gerade die lebhafte Auseinandersetzung hier ihren Raum finden. Engagierte Gemeindeglieder zeigen da eine größere Gelassenheit als die "konservativen Fernstehenden". Gut wäre es, wenn beide Gruppen zusammenwirkten. Denn mit der immensen Aufgabe, ihre großen "Sakral"-Bauten zu erhalten, sind die Kirchengemeinden allein überfordert.

Deshalb würde ich mich freuen, wenn die Liebe der Hamburger zu ihren Kirchen sich nicht nur in Empörung, sondern auch im Engagement zeigt.