Gericht verurteilte den Reemtsma-Entführer wegen versuchter Anstiftung zur räuberischen Erpressung, aber ohne Sicherungsverwahrung.

Neustadt. Er hatte diesen Tag nach mehr als zehn Jahren in Einzelhaft regelrecht herbeigesehnt. Dann, so hoffte er, begänne endlich ein Leben in Saus und Braus, ein Luxusleben. Dieser Tag wäre der 21. Juli 2012 - der Tag, an dem der Häftling Thomas Drach wieder ein freier Mann werden sollte.

Aus und vorbei: Der Tag der Entlassung ist nun in weite Ferne gerückt. Wegen versuchter Anstiftung zur räuberischen Erpressung verurteilte das Landgericht den Reemtsma-Entführer am Dienstag zu 15 Monaten Haft. Während der Urteilsverkündung fehlten selbst dem sonst so redseligen Angeklagten die Worte. Drach saß einfach da, er sagte nichts und regte sich nicht.

Verglichen mit den zwei Jahren und sechs Monaten Haft, die Staatsanwalt Karsten Hoffmann neben der Sicherungsverwahrung zuvor in seinem Schlussvortrag gefordert hatte, fiel der Schuldspruch noch milde aus. Weil das Gericht indes unter der entscheidenden Grenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe geblieben war, ordnete es keine an die Haft anschließende Sicherungsverwahrung an. Leistet sich Drach keine weiteren Straftaten, käme er endgültig im Oktober 2013 auf freien Fuß.

Drach, der durch die Reemtsma-Entführung rund 15 Millionen Euro Lösegeld erbeutet hatte und 2001 zu vierzehneinhalb Jahren Haft verurteilt worden war, wurde letztlich seine Gier zum Verhängnis. Aus der Strafhaft in Billwerder heraus versuchte der 51-Jährige seinen Freund Hans Georg M., einen ehemaligen Knastkumpel, zur räuberischen Erpressung seines Bruders Lutz anzustiften. Grund: Nach Überzeugung des Gerichts glaubte Drach, sein Bruder, der einst für ihn sechs Millionen Schweizer Franken aus der Reemtsma-Entführung gewaschen hatte, habe wesentliche Teile des Lösegeldes verschwendet - und sei ihm nun Schadenersatz in Höhe von 30 Millionen Euro schuldig. 2004 wegen Geldwäsche zu sechs Jahren Haft verurteilt, sollte Lutz Drach im Mai 2009 entlassen werden. Je näher der Entlassungstag rückte, desto mehr bangte sein Bruder demnach um den Rest des Lösegeldes. "Sie glaubten, dass Lutz, einmal in Freiheit, Sie um die Früchte Ihres kriminellen Schaffens bringen würde", sagte die Vorsitzende Richterin Ulrike Taeubner.

Reemtsma-Entführer Drach vor Gericht

Bruder des Reemtsma-Entführers: "Alles Mumpitz"

Reemtsma-Entführer Drach vor Gericht

Da beschloss Drach zu handeln: Im Februar 2009 schrieb er jene Briefe an seine Mutter Helga und seinen Freund Hans Georg M., aus denen sich der Anklagevorwurf ableitet. Er solle seinen Bruder am Entlassungstag abfangen, wies er Hans Georg M. an, und ihn in Begleitung "von zwei muskulösen Fahrern" außer Landes bringen, er solle erst im Ausland mit ihm über "christliche Themen" sprechen: Sein Bruder wolle sicherlich "Buße tun" und "alles abgeben, was ihn belastet". Lutz schulde ihm "30 Millionen Euro", zahlbar binnen sechs Monaten. Und wenn auch nur "ein Euro" fehle, so endete er, werde er "die Ratte plattmachen".

Schon im Verfahren hatte Drach in seinem typisch rheinischen Singsang über seinen Bruder rüde vom Leder gezogen. Lutz habe ihm die Haft eingebrockt, sei ein "Versager", ein "Parasit". Einer, der sich mit "seinem Geld" ein bequemes Leben am Strand gemacht habe und die sechs Millionen Schweizer Franken, die er eigentlich in Wertpapieren anlegen sollte, bei einem Drogengeschäft in den Sand gesetzt.

Drach hatte im Laufe des Verfahrens einige skurrile Auftritte. Mal gab er Justizbeamten den wohlmeinenden Rat, sich bald einen "Panzer" zu besorgen, weil er sich nach seiner Entlassung mit einer "Kalaschnikow" an ihnen rächen werde. Dann überraschte er das Gericht mit der bizarren Fabel von den einfältigen, armen Pudeln, zu denen er auch seinen Bruder zählt, und Schäferhunden wie ihm, die gleich ein paar Millionen "auf einen Schlag machen".

Wer gestern dem Schlussvortrag von Drachs Verteidiger Helfried Roubicek lauschte, mochte sich an die ein oder andere Kuriosität erinnert fühlen. Drach habe in den Briefen nur auf seinen rechtmäßigen Ansprüchen gegenüber Lutz beharrt. "Wenn sein Bruder ihm die Gelder nicht zurückgibt, kann er sie nach unserer Rechtsordnung von ihm zurückfordern." Roubicek sprach von den Reemtsma-Millionen. Und dann: Sein Mandant erinnere ihn an Klaus Kinski: "Jeder weiß, wie der auftrat und ausflippen konnte."

Gebetsmühlenartig wiederholte Roubicek, was sein Mandant mit den Briefen beabsichtigte: Drach, verroht nach mehr als zehn Jahren Isolationshaft, habe darin lediglich in seinem üblichen Gossenjargon "Dampf abgelassen", habe jedoch "nichts ernst gemeint". Insofern handele es sich um einen "Phantom-Prozess", mithin den Versuch der Staatsanwaltschaft, seinen Mandanten "auf Biegen und Brechen in Sicherungsverwahrung zu nehmen". Ähnlich äußerte sich auch Drach im Schlusswort: "Die ganze Sache ist an den Haaren herbeigezogen, um an Informationen über das Lösegeld zu kommen, den Rest hat sich die Staatsanwaltschaft in ihrem schlauen Stübchen zurechtgereimt", sagte er und ergänzte: "Ich erwarte einen Freispruch."

Das Gericht bewegt sich mit seinem Urteil sozusagen in der goldenen Mitte, beide Parteien halten sich indes eine Revision offen. Glasklar ginge aus den Briefen hervor, was Drach bezweckte: Dass sein Bruder unter Androhung von Gewalt zur Herausgabe der Millionen bewegen werden sollte. Letztlich handele es sich um eine Auseinandersetzung "zweier Schwerstkrimineller" über den Umgang mit den unrechtmäßig erbeuteten Millionen. Indes verdiene das rechtswidrig erlangte Vermögen des Lutz Drach nur eingeschränkt den Schutz durch das Strafrecht, daher komme eine höhere als die ausgesprochene Freiheitsstrafe nicht in Betracht.

Für Thomas Drach spräche, dass er die Tat eingeräumt und sich das Tatgeschehen in einem sehr frühen Stadium abgespielt habe, gegen ihn vor allem seine einschlägigen Vorstrafen. Eine Bewährung schloss das Gericht aus: Eine positive Sozialprognose könne nicht gestellt werden - von Drach seien "auch in Zukunft Straftaten zu erwarten".

Chronologie der Reemtsma-Entführung:

Juni 1995: Thomas Drach und sein Komplize Wolfgang Koszics beginnen, Jan Philipp Reemtsma zu observieren. Koszics mietet in Garlstedt bei Bremen ein Haus, das später als Geiselversteck dient.

25. März 1996: Reemtsma wird von seinem Grundstück in Hamburg-Blankenese entführt. Die Kidnapper hinterlassen eine Lösegeldforderung über 20 Millionen D-Mark.

27. März 1996: Die Erpresser melden sich mit einem Brief, dem ein Foto Reemtsmas beiliegt. Nachdem die ersten Lösegeldübergaben scheitern, erhöhen die Entführer ihre Forderung auf 30 Millionen in D-Mark und Schweizer Franken.

24. April 1996: In Krefeld gelingt der dritte Versuch zur Geldübergabe. Die Entführer entkommen mit den Millionen.

26. April 1996: Reemtsma wird nach 33 Tagen Geiselhaft in der Nähe von Hamburg freigelassen.

24. Mai 1996: In einem Haus in der Nähe von Bremen wird das Kellerverlies entdeckt, in dem Reemtsma festgehalten wurde. Als Tatverdächtige werden Peter Richter aus Leverkusen, Wolfgang Koszics aus Krefeld und Thomas Drach aus Köln gesucht.

26. Mai 1996: Koszics wird in Südspanien verhaftet.

29. Mai 1996: Richter wird in Malaga festgenommen.

14. Februar 1997: Koszics und Richter werden in Hamburg zu zehneinhalb beziehungsweise fünf Jahren Haft verurteilt.

28. März 1998: Drach wird in einem Hotel in Buenos Aires festgenommen.

12. Juni 1998: Ein Gericht in Buenos Aires ordnet zunächst an, dass sich Drach in Argentinien wegen Urkundenfälschung bzw. Passfälschung verantworten muss.

16. März 1999: Der letzte noch flüchtige mutmaßliche Täter, Piotr Laskowski, stellt sich der Polizei. Er wird am 2. September zu sechs Jahren Haft verurteilt.

24. September 1999: Richter wird auf Bewährung entlassen.

19. Juli 2000: Argentiniens Staatspräsident Fernando de la Rua stimmt der Auslieferung Drachs nach Deutschland zu.

29. Juli 2000: Drach trifft in Hamburg ein und wird kurz darauf in die Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis überstellt.

30. August 2000: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage vor der Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts. Die Anklage gegen Drach lautet etwa auf erpresserischen Menschenraub. Die mögliche Höchststrafe dafür beträgt 15 Jahre Haft.

13. Dezember 2000: Vor dem Hamburger Landgericht beginnt der Prozess gegen Drach als Kopf der Entführerbande. Drach gesteht seine Beteiligung an Reemtsmas Verschleppung.

8. März 2001: Nach 14 Hauptverhandlungstagen wird Drach zu 14 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Fast das gesamte Lösegeld bleibt bis heute verschwunden.

Dezember 2002: Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Lutz Drach, Bruder von Thomas Drach, wird von spanischen Sicherheitskräften in Madrid verhaftet. Er soll seinem Bruder beim Verstecken der Beute und der Geldwäsche behilflich gewesen sein.

15. September 2003: Lutz Drach wird nach Deutschland ausgeliefert und kommt in Aachen in Untersuchungshaft.

14. April 2004: Thomas Drach wird wegen Widerstands gegen einen Vollstreckungsbeamten zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, womit sich seine Haftstrafe verlängert.

28. Oktober 2004: Lutz Drach wird vor dem Landgericht Aachen wegen Geldwäsche zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.

23. Februar 2006: Thomas Drach muss sich wegen Widerstands gegen Justizbeamte und versuchter Nötigung erneut vor dem Hamburger Landgericht verantworten und wird noch am selben Tag zu einer zusätzlichen Haftstrafe von drei Monaten und zwei Wochen verurteilt.

25. April 2006: Lutz Drach wird im neu aufgerollten Geldwäsche-Prozess vor dem Aachener Landgericht zu einer höheren Freiheitsstrafe von nun sechseinhalb Jahren verurteilt.

Mai 2009: Lutz Drach wird aus dem Gefängnis entlassen.

13. Oktober 2011: Thomas Drach muss sich wegen versuchter Anstiftung zur räuberischen Erpressung erneut vor dem Hamburger Landgericht verantworten.