50 Jahre nach dem Anwerbe-Abkommen ist die Zeit reif, den Migrantenkindern eine doppelte Staatsangehörigkeit zu ermöglichen

"Goldene Hochzeit" nennt das Hamburger Thalia in der Gaußstraße ein interkulturelles Festival. Anlass: der 50. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbe-Abkommens am 30. Oktober 1961. Reichlich euphorisch, der Titel, werden manche sagen. Schließlich gelten die Zuwanderer türkischer Herkunft immer noch als die problematischste Migrantengruppe. Verwiesen wird auf Sprachdefizite, Schulabbrecher, gewaltbereite Jugendliche (meist als Folge autoritärer Erziehung), Gettobildung. Stimmt alles - nur trägt Deutschland ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung, weil die Integrationspolitik viel zu spät begann.

Das ist die eine Seite. Von der anderen spricht man zu selten. Deutschland hat sich mit den Arbeitskräften aus Anatolien, die für die Stahlindustrie, für Bergwerke und Werften gebraucht wurden, nicht nur kulturelle und soziale Probleme geholt. Türkischstämmige Zuwanderer sind heute längst nicht allein in Restaurantküchen, Gemüseläden und Änderungsschneidereien tätig, sondern auch als Mediziner, Wissenschaftler, Unternehmer, Künstler. Sich die Leistungsträger ins Bewusstsein zu rufen ist angebracht.

Etliche Parlamentarier türkischer Abstammung in Bund, Ländern und Kommunen vertreten die Interessen des deutschen Volkes. Zwei Landesministerinnen in Niedersachsen und Baden-Württemberg tragen türkische Namen. Parteivorsitzender der Grünen ist der "anatolische Schwabe" Cem Özdemir. Eine Reihe beherzter Frauen setzt sich kritisch mit dem Herkunftsland und dem Islam auseinander: Necla Kelek mit Kolumnen in der "FAZ", Hatice Akyün mit erfrischenden Satiren. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Lale Akgün schreibt mit Augenzwinkern Bücher zum türkisch-deutschen Zusammenleben. In Berlin hat sich die mutige Juristin Seyran Ates einen Namen gemacht. In unserer Nationalelf kickt Mesut Özil. Allesamt "Vorzeige"-Türken; viele andere ließen sich nennen. Sie sind ein geistiger, materieller und kultureller Gewinn. Auch in Hamburg:

Vural Öger, zeitweise Europa-Abgeordneter, baute hier sein Reiseunternehmen auf. Die Wandsbeker Bundestagsabgeordnete Aydan Özoguz rückt bald vielleicht in die Führungsriege der Bundes-SPD auf. Die Schauspielerin Sibel Kikelli lebt in Altona. Regisseur Fatih Akin schildert in seinen Filmen packend interkulturelle Konflikte. Die Hamburger Theater haben das kreative Potenzial kultureller Vielfalt entdeckt. Gut so! Und es gibt andere politische und soziale Projekte, die dem deutsch-türkischen Verhältnis gut täten.

Die Leistungsdefizite vieler Kinder aus Migrantenfamilien beginnen im Vorschulalter. Möglichst alle sollten pädagogisch gut gerüstete Kitas besuchen, zu günstigen finanziellen Bedingungen, auf mittlere Sicht kostenfrei. Studien belegen, dass gerade türkischstämmige Dreikäsehochs davon besonders profitieren. Nicht nur Kommunalpolitiker und Migrantenverbände, auch engagierte Bürger können bei zögernden Eltern Überzeugungsarbeit leisten.

Ein zweiter wichtiger Punkt wäre für den Bundestag eigentlich ein "Klacks". Die Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz, nach der Jugendlichen aus Einwandererfamilien sich im Alter zwischen 18 und 23 Jahren entweder für die deutsche oder die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern entscheiden müssen, gehört abgeschafft. Diese "Optionslösung" schürt familiäre Zwietracht. Außerdem sollte der deutsche Staat sich endlich generell zur "doppelten Staatsangehörigkeit" durchringen.

Seit Jahren leben Doppelstaatler unter uns, vor allem EU-Bürger, die seit vier Jahren ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht mehr aufgeben müssen. Das verstärkt natürlich bei Migranten aus Ländern außerhalb der EU das Gefühl, als Mitbürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Diesen Zustand zu beenden - das wäre ein goldener Handschlag zum Jubiläum!