Sophie, 49, war eine der Eingekesselten. Noch heute ist sie in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv

Eine unglaublich intensive Zeit war das damals, im Sommer 1986. Ich war schon lange und ziemlich fest in der Anti-Atom-Bewegung verankert. Dann, im April, kam Tschernobyl. Für mich, die ich aus dem Wendland stamme, gab es damals kaum etwas Wichtigeres, als gegen den AKW-Wahnsinn zu kämpfen.

Am Vortag war ich natürlich auch in Brokdorf, wo es ziemlich zur Sache ging. Dort hatten wir eine Art Blockade-Taktik angewandt. Autonome, Bauern, Bürgerinitiativen - jeder hatte seine Straße. Es gab einen Sternmarsch auf das geplante Kraftwerk. Ich bin hinter einem Hafenstraßen-Lastwagen gegangen. Und ich muss sagen, dass an dem Tag Heftiges passiert ist: Die Autos von Demonstrierenden waren demoliert, Scheiben eingeschlagen. Es war klar, dass es eine Demo am Folgetag geben würde. Ein Plenum traf sich im Szenelokal W3. Um 12 Uhr versammelten wir uns auf dem Heiligengeistfeld. Dort kamen Bürgerinitiativen und Umweltgruppen, alle möglichen Leute aus der Szene und andere, die etwas gegen Atomkraft hatten, zusammen. Vom Pastor bis zum Autonomen, sozusagen.

Das mit dem Einkesseln ging dann erstaunlich schnell. Die Empörung, die Wut waren riesengroß. Plötzlich waren wir umzingelt, und nichts ging mehr. Am Rand wurde auf die Leute eingeprügelt. Überall gab es Rangeleien. Am Anfang haben einige versucht, auszubrechen. Später dann nicht mehr. Ich habe mich bewusst in der Mitte aufgehalten, um nichts abzukriegen. Als sich dann abzeichnete, dass die ganze Situation sich so schnell nicht ändern würde, griff erst eine Art kollektive Ratlosigkeit um sich. Bei den Eingeschlossenen und bei den Polizisten. Nur wenige von ihnen haben mit uns gesprochen. Diejenigen, die nicht komplett schwiegen, haben uns angeblafft. Wir blieben wirklich lange ohne jede Versorgung. Irgendwann kamen dann Leute von den Grünen auf die Idee, uns Essen in den Kessel zu schmeißen. Man hatte das Gefühl, die Polizisten wurden direkt neidisch. Die standen ja auch stundenlang da rum. Viele von denen waren dementsprechend schlecht drauf. Einige haben sich lustig gemacht, wenn wir fragten, ob wir mal auf eine Toilette dürften.

Die Frauen haben dann immer zu zweit Tücher hochgehalten, wenn eine andere pinkeln musste. Das war wirklich entwürdigend. Später durften einzelne Leute zu einem Klowagen gehen, immer mit Polizeibegleitung. Alle sind zurück in den Kessel, obwohl sich wirklich alle fragten, ob uns nicht später irgendwelche schweren Straftaten vorgeworfen würden. Und es kam Unterstützung von außen, als sich herumgesprochen hatte, was da auf dem Heiligengeistfeld passiert. Weitere Demonstranten postierten sich an der Polizeiabsperrung, Taxen fuhren vor. Die Polizei verhielt sich weiter, als seien wir alle RAF-Terroristen und Gewalttäter. Ich vermute, die Polizeiführung wusste ab einem gewissen Punkt einfach nicht mehr, wie sie mit der Situation umgehen soll.

Am späten Abend wurden wir dann nach und nach auf Zellen und Wachen in ganz Hamburg verteilt. Ich kam irgendwo an den Stadtrand, wo genau das war, weiß ich gar nicht mehr. Meine Personalien wurden aufgenommen, dann sollte ich gehen. Mitten in der Nacht. Zum Glück gab es einen Fahrdienst, den Demonstrierende mit linken Taxifahrern organisiert hatten.

Daraus wurde dann ja später das Unternehmen "Das Taxi". Die gibt's ja heute noch. So wie auch die Anti-Atom-Bewegung. Das Thema ist aktueller als je zuvor. Deshalb möchte ich auch nicht, dass mein Name in der Zeitung steht. Denn ich demonstriere regelmäßig gegen die Castor-Transporte und habe bei der Kampagne gegen den Währungsfonds mitgemacht.

Für das Eingekesseltsein haben wir alle eine Entschädigung bekommen. 200 Mark. Eine Entschuldigung von der Polizeiführung oder einem Senator gab es nie. Wenn ich heute an den Kessel zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an das Positive: Die Solidarität unter uns Demonstrierenden. Das war schön.